Die EU plant die Einführung von Solvency II bis Anfang 2013. Wie gut ist die Lebensversicherungsbranche nach Ihrer Meinung darauf vorbereitet? Glauben Sie, dass der Einführungstermin realistisch ist?
Dr. Johannes Lörper: Keine Frage, der Zeitplan ist sehr ambitioniert. In den nächsten zweieinhalb Jahren müssen noch viele Details von Solvency II geklärt werden, und viele dieser Regelungen müssen noch durch den EU-Gesetzgebungsprozess. Anschließend folgt die Umsetzung in deutsches Versicherungs- und Aufsichtsrecht mit voraussichtlich größerem Änderungsbedarf. Viele entscheidende Fragen sind zu klären, dazu gehört unter anderem die Frage, ob wir auch zukünftig einen Höchstrechnungszins in Deutschland verankern wollen. Hierfür spricht einiges im klassischen Geschäft. Gleichzeitig müssen wir moderne kapitalmarktnahe Produkte mit attraktiven Garantien anbieten können.
Bei den Solvenzkapitalanforderungen nach dem Standardansatz wird noch weiterer Feinschliff erfolgen. Hier haben GDV, DAV und BaFin zusammen gute Arbeit geleistet und basierend auf den europäischen Vorgaben ein so genanntes „Cashflow-Modell“ entwickelt, das die Besonderheiten des Geschäftsmodells der deutschen Lebensversicherung adäquat abbildet.
Die deutsche Lebensversicherungsbranche halte ich insgesamt für gut vorbereitet. Solvency II wird von der Branche sehr ernst genommen, das zeigte bereits die sehr hohe Beteiligung der deutschen Lebensversicherer an der letzten Auswirkungsstudie zu den Kapitalanforderungen (QIS 4). Hier nahmen 95 % der Lebensversicherer - nach Marktanteil gemessen - teil!
Der Einführungstermin ist ehrgeizig, aber zu schaffen. Hierzu wird die deutsche Lebensversicherung natürlich weiterhin aktiv und konstruktiv an den noch offenen Punkten mitarbeiten. Und dazu gehört, dass alle Lebensversicherer an Feldstudien teilnehmen, insbesondere an der nächsten Auswirkungsstudie zu den Kapitalanforderungen, QIS 5!
In welchen Bereichen sehen Sie die größten Herausforderungen bei der Erfüllung der Anforderungen aus Solvency II? Befürchten Sie Schieflagen? Wird es nach Ihrer Einschätzung zu verstärkten Übernahmen und Fusionen kommen?
Dr. Johannes Lörper: Grundlegend neu und komplexer als in der Vergangenheit ist die Berechnung der Solvenzanforderung nach einem Standardansatz, der alle maßgeblichen Risiken erfasst und ökonomisch bewertet. Für die Gesellschaften, die interne Modelle verwenden wollen, wird eine wichtige Herausforderung sein, diese zu konzipieren oder bereits bestehende Risikokapitalmodelle entsprechend anzupassen. Hier benötigt ein Lebensversicherer nicht nur eine hohe fachliche Expertise in Bezug auf die Evaluierung und Modellierung von Risiken, sondern muss auch die Querverbindungen zu Themen wie beispielsweise IFRS-Rechnungslegung und Embedded Value im Blick haben.
Neben den quantitativen Neuerungen werden sich auch neue qualitative Anforderungen an das Risikomanagement ergeben. Zusätzliche Offenlegungspflichten werden zu erfüllen sein. Dabei gilt es, ein verständliches und realistisches Bild der ökonomischen Risiken zu erzeugen. Gleichzeitig ist die marktkonsistente Bewertung, in die auch Annahmen zu Zinsniveaus in 30, 40 oder 50 Jahren eingehen, geeignet zu interpretieren. Hierzu werden bereits in der QIS 5 erste Schritte unternommen. Mit Solvency II werden nach meiner Einschätzung eher ökonomische Schieflagen erkennbar, als das diese selbst erzeugt werden. Konkrete Aussagen zu Trends hin zu verstärkten Übernahmen und Fusionen sind derzeit nicht möglich.
Die künftigen Aufsichtsregeln unter Solvency II sind risikoorientierter, aber zugleich auch komplexer als die bisherigen. Ist der Aufwand aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?
Dr. Johannes Lörper: Mit Solvency II entsteht ein harmonisiertes Aufsichtssystem auf hohem Niveau, das konsequent risikobasiert und ökonomisch ausgerichtet ist. All dieses gibt es nicht ohne zusätzlichen Aufwand, gerade bei Entwicklung und Verwendung eines internen Risikomodells. Ich bin jedoch überzeugt, der Aufwand für die Anwendung und Umsetzung von Solvency II wird sich lohnen. Wir sollten Solvency II als Chance begreifen und den Nutzen, den wir daraus ziehen können, maximieren. Dieses gilt insbesondere in der Lebensversicherung, die für die Einhaltung langfristiger Leistungsversprechen, für Verlässlichkeit und Sicherheit steht.
Welche Auswirkungen auf die Kapitalanforderungen erwarten Sie aus der neuen Auswirkungsstudie QIS 5? Wo prognostizieren Sie die größten Unterschiede zu QIS 4? Dr. Johannes Lörper: Der Hauptunterschied zwischen den beiden Berechnungsstudien liegt darin, dass der zugrunde liegende Kapitalmarkt ein anderer ist. Seit 2007, dem QIS 4 zugrunde liegenden Jahr, sind die Zinsen am Kapitalmarkt gesunken.
Soweit derzeit erkennbar ist, gibt es noch einige weitere Änderungen in der Methodik, welche die Ausgestaltung von aktivseitigen Risiken, die Anpassung des operativen Risikos und von Korrelationsannahmen betreffen. Insbesondere für die Lebensversicherer interessant ist eine Modifikation der für die Diskontierung der versicherungstechnischen Verbindlichkeiten benötigten Zinsstrukturkurve. Hier erhöht sich die Zinskurve in den ersten Jahren für bestimmte Policen, um damit der Illiquidität von versicherungsvertraglichen Verpflichtungen Rechnung zu tragen. Trotz dieses gegenläufigen Effektes kann man jedoch davon ausgehen, dass die Solvenzkapitalanforderungen – aufgrund des anderen Kapitalmarktes als bei QIS 4 – höher sein werden.
Hohe Anforderungen stellt Solvency II auch an die Transparenz der Versicherer. Wird es für die Verbraucher dadurch leichter, die Solvenz der Anbieter von außen zu beurteilen?
Dr. Johannes Lörper: Solvency II verfolgt auch das Ziel, mit zusätzlichen Informationen zur Risikolage eine größere „Expertentransparenz“ herzustellen. In Zukunft werden viele Stakeholder, insbesondere die Aufsicht und Analysten, eine umfassende Einsicht in die Methoden und Modelle zur Bestimmung der Solvenzanforderungen haben. Dies dient schließlich den Kunden, auch wenn diese nicht die Berechnungen oder Ergebnisse überprüfen können. Sie können sich jedoch darauf verlassen, dass diese Veröffentlichungen mit den darin getroffenen Aussagen verlässlich und geprüft sind. Diese Transparenz begrüßen wir ausdrücklich. Nichtsdestoweniger wäre es schön, wenn es mit der Stärkung dieser Markttransparenz auch gelänge, dem Verbraucher die Dinge verständlich darstellen zu können.
Wie weit ist die ERGO-Gruppe mit ihren Vorbereitungen auf Solvency II?
Dr. Johannes Lörper: Die ERGO Versicherungsgruppe unterstützt eine zügige Weiterentwicklung und Implementierung des angestrebten Regelwerkes, das in allen wesentlichen Teilen unseren Risikomanagement-Ansätzen entspricht. Hierzu arbeiten wir konstruktiv in verschiedenen Gremien und Verbänden auf nationaler und auf europäischer Ebene mit. Intern treiben wir die Einführung eines eigenen gruppenweiten Risikomodells voran und richten unser integriertes Risikomanagement-System auf Solvency II aus. Die Entwicklung der Systeme zur Modellierung der Risiken läuft wie vorgesehen, was unsere Planung und den Marktvergleich betrifft. Zusammenfassend kann ich sagen: Dank des umfassenden Know-hows der ERGO Versicherungsgruppe können wir nicht nur konstruktiv zur Konzeption beitragen, sondern wir setzen auch intern bereits weit vorausschauend so viel wie möglich um.
Welche zentralen Erkenntnisse für Ihr Risikomanagement konnten Sie aus dem Entwicklungsprozess gewinnen? Hat Solvency II auch für die Neustrukturierung des ERGO-Konzerns und die Einstellung des Neugeschäfts bei der Victoria Leben eine Rolle gespielt?
Dr. Johannes Lörper: Da wir uns schon seit Jahren intensiv mit Risikomanagement beschäftigen, haben wir auch bisher neue Erkenntnisse stets aufgenommen. Die neue Markenstrategie war nicht von Solvency II ausgelöst bzw. dadurch motiviert. Auch die Entscheidung, zukünftig das Neugeschäft auf die ERGO Leben zu konzentrieren, wurde hierdurch nicht beeinflusst.
Welche Auswirkungen wird die neue Solvenzaufsicht auf die Unternehmenspolitik und die Produktgestaltung von ERGO haben?
Dr. Johannes Lörper: Die Entwicklung an den Kapitalmärkten in den letzten Jahren zusammen mit einem geschärften Risikobewusstsein hat einen sehr hohen Einfluss auf unsere Unternehmenspolitik. Die neue Solvenzaufsicht wird dies weiter fördern. Dabei bleiben wir bei unserem Ziel, unsere Aktivitäten exzellent zu managen und zu steuern. Unser hoch entwickeltes Risikomanagementsystem, das auch die Aktiv-Passiv-Steuerung (ALM) umfasst, werden wir weiter verfeinern. Ebenso werden wir an der wert- und risikoorientierten Steuerung (Value-based Management) aller geschäftlichen Aktivitäten festhalten. Unser Risikomanagementsystem hat bereits einen sehr genauen Blick auf die aktiv- und passivseitigen Risiken, dabei insbesondere auf die versicherungstechnischen Risiken. Erkenntnisse hieraus fließen bereits in unsere Produktgestaltung ein. Dies kommt sowohl den Kunden als auch den Unternehmen zugute