Interview mit Prof. Dr. Dieter Farny

Das Team von Solvency II-kompakt befragte Herrn Prof. Dr. Dieter Farny, der sich als Professor em. für Versicherungslehre an der Universität zu Köln und Direktor des dortigen Instituts für Versicherungswissenschaft über Jahrzehnte hinweg mit der Versicherungswirtschaft beschäftigt hat, im April 2012 als unabhängigen Experten zum Thema Solvency II.

Wie erleben Sie die derzeitige Stimmung in der Versicherungswirtschaft? Inwieweit wird sie Ihrer Meinung nach durch die Einführung von Solvency II beeinflusst?

Die gegenwärtige Stimmung in der deutschen Assekuranz ist ambivalent. Die Marktentwicklungen in den drei großen Branchen Schaden-, Lebens- und Krankenversicherung sind im Hinblick auf die Prämienumsätze und die Geschäftsergebnisse verschieden, in der Schadenversicherung tendenziell besser als in der Lebens- und Krankenversicherung.

Die Lebensversicherer arbeiten zwar an notwendigen neuen Produktentwicklungen, besonders für Altersvorsorgeprodukte, sind aber noch in einer Übergangsphase. In der Krankenversicherung steht das politische Risiko ins Haus, dass mit der politisch diskutierten Neuordnung des Gesundheits- bzw. Krankenversicherungssystems in Richtung auf eine „Bürgerversicherung“ das Hauptgeschäftsfeld der Krankheitskostenvollversicherung stark beeinträchtigt würde. In den Personenversicherungen kommen die Probleme der Unisex-Tarife hinzu, die durch das unsinnige EuGH-Urteil ausgelöst wurden

Einige Ungewissheiten bestehen weiterhin im Zusammenhang mit Solvency II. Die Branche begrüßt zwar das neue EU-weite Aufsichtssystem, beklagt aber Mängel bei den quantitativen Anforderungen an die Kapitalausstattung (Säule I), deren Einzelheiten immer noch nicht feststehen und befürchtet eine voraussichtlich ausufernde Bürokratie bei der Kontrolle der Risikomanagement-Systeme (Säule II), die gewaltig ausgeweitete Geschäftsprozesse mit entsprechenden Kosten erfordern.

Es ist derzeit schwierig, den Einfluss von Solvency II auf die Unternehmenspolitik der Versicherer in generellen Aussagen zu erfassen. Dazu trägt auch die anstehende große Novelle zum VAG bei, die die Solvency II-Richtlinie umsetzen soll, was voraussichtlich zu Änderungen der Aufsichtsphilosophie in Deutschland führen wird, indem materielle Eingriffe der Aufsichtsbehörde zur Missstandsbeseitigung nicht mehr möglich sein werden, wenn nicht zugleich Rechtsverstöße vorliegen.

Sind Sie der Meinung, dass Solvency II die Versicherungswirtschaft grundlegend verändern wird?

Solvency II verursacht mit Sicherheit Veränderungen in der deutschen Assekuranz. Das 110 Jahre alte System der Versicherungsaufsicht in Deutschland wird durch ein EU-weit einheitliches, in Teilen anders gestaltetes Aufsichtssystem ersetzt, das eine bisher unbekannte Mischung aus quantitativen Regeln und qualitativen Elementen bei der Aufsichtsdurchführung enthält. Die Effizienz der künftigen Aufsicht hängt nicht nur von den gesetzlichen Vorschriften ab, sondern auch – und insbesondere – von der praktischen Aufsichtsdurchführung, letzteres – erstmals – in der Zusamenarbeit zwischen der deutschen Aufsichtsbehörde und einer soeben installierten europäischen Aufsichtsbehörde.

Das künftige Aufsichtsrecht leidet auch noch unter der fehlenden Auslegung einer großen Zahl unbestimmter Rechtsbegriffe, so dass mit einer längeren Periode der Ungewissheit über die tatsächlich durchgeführte Rechts- und Finanzaufsicht zu rechnen ist.

Im Zusammenhang von Solvency II wird häufig davon gesprochen, dass es zu einer Marktbereinigung kommen wird. Sehen Sie auch, dass eine solche Gefahr besteht, zum Beispiel durch eine Reduzierung der Anzahl der VU (insbesondere der kleineren Versicherungsunternehmen)?

Die These von einer „Marktbereinigung“ als Folge von Solvency II erscheint undifferenziert. Ob Versicherungsunternehmen, besonders kleinere vom Markt verschwinden werden, hängt weniger von den neuen Aufsichtsregeln, sondern mehr von der wirtschaftlichen Verfassung der Unternehmen ab.

Die kleineren Versicherer arbeiten überwiegend mit einer gewissen Spezialisierung. Wenn Solvency II diese Spezialitäten nicht angemessen berücksichtigt, besteht in der Tat eine gewisse Gefährdung. Nach dem Proportionalitätsgrundsatz sollte allerdings die Angemessenheit der Aufsicht möglich sein; die gegenwärtige Diskussion über Einzelheiten von Solvency II begründet freilich Zweifel, dass kleinere und spezialisierte Versicherer „angemessen“ behandelt werden. Das betrifft z. B. den Aufwand für die Messung des Unternehmensrisikos nach einem zu pauschalen Standardmodell oder einem (sehr teuren) internen Modell, weiter die Arten und den Umfang der Risikomanagementprozesse sowie die Berichtspflichten gegenüber der Aufsichtsbehörde und der Öffentlichkeit. Es wäre kontraproduktiv, wenn die kleineren und spezialisierten Versicherer, die eine wichtige Rolle im Marktwettbewerb spielen, wegen überzogener Anforderungen der Aufsicht vom Markt verschwinden müssten.

Bleibt die Rechtsform des VVaG auch weiterhin eine Rechtsform mit Zukunft auf dem deutschen Versicherungsmarkt?

Für Gegenseitigkeitsvereine gilt eine alte Spruchweisheit: “Totgesagte leben länger!“ Die deutsche Gegenseitigkeitsversicherung hat nach den gegenwärtigen Befunden auch unter Solvency II insgesamt eine gute Zukunftschance, wenngleich das nicht unbedingt für alle einzelnen großen und kleinen, generell oder speziell tätigen Versicherungsvereine und für alle drei Branchen Schaden-, Lebens- und Krankenversicherung gelten muss (übrigens auch nicht bei den anderen Rechtsformen).

Der Vorteil der Gegenseitigkeitsversicherer liegt in der Chance einer besonders intensiven Kundenorientierung, weil die Versicherungsnehmer zugleich die Unternehmensträger sind, was die Unabhängigkeit der Vereine von Kapitalmarkt und Börse begründet. Freilich bedeutet dies auch Nachteile bei der Beschaffung von Eigenkapital, das nur durch Erzielung und Einbehaltung von Gewinnen bereitgestellt werden kann.

Immerhin ist nach den Zahlen des Geschäftsjahres 2010 die Ausstattung der Gegenseitigkeitsversicherer mit Solvabilitätsmitteln rund 20 % bis 25 % höher als im Marktdurchschnitt, und dies ist ein beachtlicher Puffer, wenn nach Solvency II höhere Sicherheitsmittel aufgebracht werden müssen.
Andere Benachteiligungen der Gegenseitigkeitsvereine in den Solvency II-Regeln, besonders bei der Gruppensolvabilität in Gleichordnungskonzernen, sollten noch beseitigt werden.

Ist die klassische Lebensversicherung in Zeiten von Solvency II ein Auslaufmodell? Welches werden Ihrer Meinung nach die Versicherungsprodukte der Zukunft im Lebensbereich im Zeitalter von Solvency II sein?

Die klassische (deutsche) Lebensversicherung, besonders die kapitalbildenden langfristigen Geschäftstypen für die Altersvorsorge, ist weniger durch Solvency II, sondern mehr durch die Entwicklungen auf den Finanz- und Kapitalmärkten beeinträchtigt. Die anhaltende Niedrigzinsphase und die Abschreibungen auf schlechte Staatspapiere erschweren es zunehmend, die garantierte Verzinsung der Sparguthaben durch die Rendite der Kapitalanlagen zu erwirtschaften.

Ein Rückzug der Lebensversicherer auf reine Risikoversicherungen für biometrische Risiken würde das Geschäftsvolumen der Lebensversicherung dramatisch senken und ist deshalb keine Lösung der Probleme. Dies kann nur durch neue Produktgestaltung erreicht werden, besonders bezüglich der Garantien für Sparkapitalerhaltung und –verzinsung, die hohe Absicherungskosten verursachen oder ganz oder teilweise auf die Versicherungsnehmer übertragen werden.

Im Übrigen sind die neuen Lebensversicherungsprodukte außerordentlich komplex, für die Kunden schwer verständlich und bei Beratung und Vertrieb schwierig. Zusammenfassend: Die Lebensversicherung mit Ansparprozessen ist als Instrument der Altersvorsorge unverzichtbar, aber die Ausgestaltung wird sich ändern.

Inwiefern wird die Einführung von Solvency II Ihrer Meinung nach das Kapitalanlageverhalten der Versicherungsunternehmen beeinflussen?

Solvency II wird die Kapitalanlagepolitik der Versicherer beeinflussen, weil die Unterlegung der einzelnen Kapitalanlagen mit Sicherheitskapital Umschichtungen zwischen den Asset-Klassen auslösen wird. Hier besteht auch ein Zusammenhang mit Rechnungslegungsvorschriften, weil die Berechnung der Kapitalanforderungen in Abhängigkeit von der Risikosituation überwiegend mit Größen aus dem Jahresabschluss erfolgt. Und diese Rechengrößen sind im Jahresabschluss nach HGB/RechVersV andere als nach den möglicherweise auch für die Einzelabschlüsse einzuführenden IFRS.

Kritik- und änderungsbedürftig sind nach wie vor die teilweise unplausiblen Kapitalunterlegungsvorschriften für einzelne Kategorien von Staatspapieren, Aktien und den Grundbesitz.

Wird durch die Standardformel von Solvency II nicht vielleicht genau das Gegenteil dessen erreicht, was man erreichen wollte? Beispielsweise werden griechische Staatsanleihen gar nicht im Spreadrisiko berücksichtigt. Wie beurteilen Sie in diesem Fall die Verknüpfung von politisch motivierten Vorgaben mit der Definition von Kapitalanforderungen für Versicherungsnehmer?

Die Standardformel für die Ermittlung der Risikosituation eines Versicherers ist – das sagt der Name – eben nur ein Standard, der die tatsächliche Risikolage nicht zwingend richtig und angemessen wiedergibt. Es wird erwartet, dass der Kapitalbedarf nach dem Standardmodell tendenziell höher ist als nach einem internen Modell, das die Risikolage genauer messen kann.

Hier zeigt sich ein bekanntes Dilemma: Entweder das einfache, große, nicht manipulierbare, gut vergleichbare und kostengünstige Standardmodell oder das komplexe, fein messende, leicht manipulierbare, wenig vergleichbare interne Modell mit – zugegeben – besserer theoretischer Fundierung aber mit weit höheren Kosten.

Die Verquickung von Kapitalanforderungen mit politisch motivierten Vorstellungen, z. B. bei den Staatsanleihen mit verschiedenen Bonitäten, ist sachfremd, weil das mit Versicherungsaufsicht zum Zweck des Verbraucherschutzes nichts zu tun hat. Es erscheint unangebracht, mit Maßnahmen der Versicherungsaufsicht die europäischen Finanzmärkte zu beeinflussen und zu stabilisieren; dafür gibt es andere Instrumente.