Sandkastenspiele und Proportionalität – Solvency II und die InsurTech-Startups

Die Einführung von Solvency II wurde begleitet durch zahlreiche Sorgen und mitunter laut­starkes Klagen kleiner und mittelgroßer Versicherer über die bürokratischen Lasten, die mit dem neuen Aufsichtsregime auf sie zukommen würden. In der Lobby-Arbeit des Gesamt­verbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) spielte die Forderung nach der Anwendung des sog. Proportionalitätsgrundsatzes eine zentrale Rolle.

Die Einführung von Solvency II wurde begleitet durch zahlreiche Sorgen und mitunter laut­starkes Klagen kleiner und mittelgroßer Versicherer über die bürokratischen Lasten, die mit dem neuen Aufsichtsregime auf sie zukommen würden. In der Lobby-Arbeit des Gesamt­verbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) spielte die Forderung nach der Anwendung des sog. Proportionalitätsgrundsatzes eine zentrale Rolle. Gefordert wurde konkret, dass kleinen und mittelgroßen Versicherern kein Wettbewerbsnachteil entstehen dürfe und sich der Aufwand der Umsetzung von Solvency II daher an deren Möglichkeiten (verfügbaren Ressourcen) orientieren müsse. Wenn aber schon Versicherer mit mehreren Hundert Millionen Beitragseinnahmen Wettbewerbsnachteile fürchten (müssen?), was heißt dies dann erst für die InsurTech Start­ups, die mit großer Euphorie aber zunächst minimalen Beitragseinnahmen und Ressourcen an den Start gehen? Wie wirkt sich Solvency II auf diese Unternehmen aus, wie müssen sie sich auf Solvency II vorbereiten und wie behandelt die BaFin diese Unternehmen?

Frank Grund, der oberste deutsche Versicherungsaufseher, legt Wert darauf, dass die BaFin InsurTech-Startups nach den gleichen strengen Kriterien beaufsichtigt wie jedes andere Unternehmen auch. „Es ist weder unsere Aufgabe, den Versicherungsmarkt zu konsolidieren, noch Start-ups zu fördern“ lässt er sich zitieren. Eine Sonderbehandlung für besonders innovative digitale Geschäftsmodelle soll es also in Deutschland nicht geben. Grund betont lediglich den Grundsatz der Proportionalität, allerdings mit der Klarstellung, dass dieser nicht allein an der Größe des Unternehmens, sondern am Umfang der eingegangenen Risiken ansetze, es gelte also der Grundsatz „gleiches Risiko, gleiche Regeln“. Soweit InsurTech Startups sich also vor allem im weniger risikoreichen standardisierten Privatkundengeschäft tummeln, können sie sich bei gleichzeitig in den ersten Jahren geringer Unternehmensgröße also grundsätzlich auch in Deutschland Hoffnungen auf einen schlanken Aufsichtsprozess machen. Umgekehrt könnte es aussehen, wenn InsurTech Startups sich an komplexere Risiken wagen und noch dazu dabei wenig erforschtes Terrain betreten, z.B. in der Versicherung von Cyber-Risiken.

Einen bewusst anderen Ansatz als die deutsche BaFin verfolgt die britische FCA (Financial Conduct Authority). Sie bekennt sich ausdrücklich zur Förderung innovativer digitaler Geschäftsideen und stellt unter dem Dach des Projekts „FCA Innovate“ zum Test derartiger Modelle eine regulatorische Umgebung mit niedrigeren Anforderungen zur Verfügung, die sog. „Regulatory Sandbox“. Bei bislang vier Kohorten wurden ca. 90 Unternehmen in das Programm aufgenommen. In der Begründung des Vorgehens beruft sich auch die britische FCA ausdrücklich auf den in der Solvency-II-Richtlinie verankerten Proportionalitätsgrundsatz und weist gleichzeitig ausdrücklich darauf hin, dass mit der Sandbox kein Verzicht auf Compliance-Regeln oder gesetzliche Vorgaben verbunden sei. Das Angebot der FCA Sandbox beschränkt sich im Übrigen nicht auf neu gegründete Startups, bewerben können sich auch etablierte Unternehmen für den Test neuer, innovativer, digitaler Geschäftsideen. Eine Ungleichbehandlung findet also auch hier nicht statt. Dass dieses Angebot auch von großen Finanzdienstleistern angenommen wird, bestätigt ein Blick in die Teilnehmerlisten der ersten vier Batches – hier finden sich Namen wie HSBC, die Lloyds Banking Group, Barclays und Nationwide.

Wie kommt es aber zu diesen Unterschieden in der Umsetzung der europäischen Richtlinie und welcher Ansatz ist aus Sicht der InsurTech Startups vorzuziehen? Zunächst einmal scheinen die beiden unterschiedlichen Vorgehensweisen unsere Vorurteile zu bestätigen. Hier die präzise, mustergültige deutsche Umsetzung der Richtlinie ohne Sonderregelungen, die nun einmal nicht in der Richtlinie stehen – dort die liberale Förderung von Geschäfts­modellen und unternehmerischer Innovation in Bereichen, in denen dies politisch und gesellschaftlich gewollt ist. Hätte die BaFin den gleichen Weg wie die FCA gewählt, hätten wir in Deutschland sicher eine lebendige Diskussion über die vermeintliche Vorzugsbehandlung für die neuen Wettbewerber erlebt. Das Vorgehen der BaFin scheint mir daher nicht nur im Ein­klang mit der deutschen Aufsichtspraxis, sondern auch mit den Erwartungen der Mehrheit der von ihr beaufsichtigten Marktteilnehmer zu stehen. Manchmal darf eben auch die Aufsicht die Marktteilnehmer nicht durch allzu innovative Vorgehensmodelle überfordern.

Aber auch wenn sich die Vorgehensweisen von BaFin und FCA auf dem Papier diametral zu unterscheiden scheinen, stellt sich doch die Frage, wie groß die Unterschiede in der gelebten Aufsichtspraxis zwischen den beiden Ansätzen tatsächlich sind. Werden neue Geschäftsmodelle im Sandbox-Ansatz der FCA deutlich einfacher und schneller genehmigt als dies durch die BaFin auf der Grundlage des Proportionalitätsgrundsatzes geschieht oder haben genehmigte und bereits operativ tätige Geschäftsmodelle in Deutschland mit deutlich umfangreicheren Berichts­pflichten zu kämpfen als ihre Kollegen in Großbritannien? In Ermangelung einer wissenschaftlich fundierten vergleichenden Studie (mir ist jedenfalls zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags keine solche bekannt), lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten. Als Indizien stehen mir nur die vereinzelten Rückmeldungen von Startups zur Verfügung, die die jeweiligen Prozesse bereits durchlaufen haben oder derzeit noch durchlaufen. Und da erhalten sowohl die britische FCA als auch die deutsche BaFin von ihren „Kunden“ erfreulich gute Kritiken. Die Unterstützung durch die für die Antrags- und Aufsichts­prozesse zuständigen Mitarbeiter der Aufsicht wird in der Regel gelobt und auch die Bearbeitungszeiten wurden in den mir bekannten Fällen nicht für unangemessen gehalten. Insgesamt haben sich die Schilderungen deutscher und britischer InsurTech-Startups vergleichsweise wenig unterschieden. Und auch wenn diese Beobachtungen natürlich nicht repräsentativ sein können, sprechen sie doch dafür, dass beide Aufsichtsbehörden auf eine angemessene und faire Betreuung der neuen Marktteilnehmer achten.

Wie ernst die neuen Wettbewerber bereits heute genommen werden, zeigen Äußerungen aus dem Management der etablierten Marktteilnehmer. So wird der Vorstands­vorsitzende eines der deutschen Marktführer mit der Sorge zitiert, dass die etablierten Marktteilnehmer aufgrund ihrer über Jahre gewachsenen IT-Strukturen gegenüber ihren neuen, digitalen Wettbewer­bern im Nachteil seien könnten. Es sei natürlich viel aufwändiger in fünf bis zehn Systemen nach­schauen zu müssen, als in einem zentralen System. Und es sei nicht in Ordnung, wenn der regulatorische Rahmen dafür sorge, dass bestehende Versicherungs­unter­nehmen mehr und intensiver investieren müssen als neue Marktteilnehmer. Ich fürchte allerdings, dass die etablierten Versicherer genau dies werden tun müssen – nur sind hierfür nicht der regulatorische Rahmen oder die Aufsichtspraxis der BaFin verantwortlich, sondern einzig und allein die Altlasten in den Systemen der Versicherer. Dies auszugleichen kann kaum die Aufgabe der Versicherungsaufsicht sein. Beide Seiten, die etablierten Marktteilnehmer und die neuen Wettbewerber sollten vielmehr darauf vertrauen, dass die Aufsicht für faire Wettbewerbsbedingungen, für das viel zitierte „Level Playing Field“ sorgen wird. Bisher gibt es jedenfalls keinerlei Anzeichen dafür, dass dies nicht der Fall sein könnte.