„Double Hit“ in die Branchenkrise? – EIOPA-Stresstest 2016 unter der Lupe

Am 24. Mai 2016 startete nach 2011 und 2014 die dritte Auflage des EU-weiten Stresstests der EIOPA (European Insurance and Occupational Pensions Authority) für den europäischen Versicherungssektor. Dies nimmt Assekurata zum Anlass, die methodischen Hintergründe und bisherigen empirischen Erkenntnisse genauer zu beleuchten. 2014 waren die Ergebnisse zahlreich publiziert und branchenweit insgesamt positiv aufgenommen worden.

Am 24. Mai 2016 startete nach 2011 und 2014 die dritte Auflage des EU-weiten Stresstests der EIOPA (European Insurance and Occupational Pensions Authority) für den europäischen Versicherungssektor. Dies nimmt Assekurata zum Anlass, die methodischen Hintergründe und bisherigen empirischen Erkenntnisse genauer zu beleuchten. 2014 waren die Ergebnisse zahlreich publiziert und branchenweit insgesamt positiv aufgenommen worden. Insbesondere deutsche Lebensversicherer hätten nach Aussage des GDV-Präsidenten Alexander Erdland bereits im Vorfeld auf die widrige Marktsituation reagiert und umfangreiche Rückstellungen gebildet. 1 Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse hat EIOPA die Versicherer hingegen dazu aufgefordert, sich intensiv der Thematik der Durationslücke („Duration Gap“) – also der Differenz aus der Duration der Aktiv- und Passivseite – zu widmen. Allerdings erweist sich die gewählte Berechnungsmethodik als nicht adäquat für das Geschäftsmodell der meisten deutschen Lebensversicherer.

Im Rahmen des EIOPA-Stresstests 2014 hatte die Aufsichtsbehörde die Versicherungsgesellschaften dazu angehalten, die Auswirkungen verschiedener definierter Stressszenarien zu untersuchen, um auf dieser Basis die ökonomische Resistenz des Sektors zu testen. Das so genannte Basisszenario (entspricht der Ausgangssituation zum betrachteten Stichtag) fußte im Wesentlichen auf dem Solvency-II-Standardmodell. Darüber hinaus wurden mehrere makroökonomische und versicherungsspezifische Schocks getestet, die unter anderem ein langanhaltendes Niedrigzinsszenario („Japan-Szenario“) sowie ein Szenario plötzlich steigender kurzfristiger und sinkender langfristiger Zinsen („Inverses Szenario“) beinhalten. Am zentralen Testmodul nahmen 167 europäische Versicherungsunternehmen und -gruppen teil, die zum damaligen Zeitpunkt zusammen ungefähr 55 % des Prämienvolumens in Europa abdeckten. Am erweiterten Test, der die Folgen einer anhaltenden Niedrigzinsphase simuliert, beteiligten sich 225 Einzelunternehmen (ca. 60 % des Marktes).

Eine wesentliche Erkenntnis dieses Tests war, dass die europäische Versicherungsbranche unter dem Basisszenario – also unter Solvency-II-Gesichtspunkten – insgesamt ausreichend kapitalisiert ist. Dennoch konnten im Basisszenario des erweiterten Testmoduls (Niedrigzinsmodul) 16 % der Teilnehmer, die 8 % des gesamten Kapitalanlagevolumens repräsentierten, die künftige Solvenzkapitalanforderung unter Solvency II (SCR, Solvency Capital Requirement) nicht erfüllen und wiesen folglich eine SCR-Bedeckungsquote von unter 100 % auf. Im Szenario eines sich plötzlich umkehrenden Zinsniveaus („Inverses Szenario“) konnten 20 % der teilnehmenden Unternehmen die Solvenzkapitalanforderung nicht mehr bedecken, im „Japan-Szenario“ sogar 24 %.

Die Simulation einer langanhaltenden Niedrigzinsphase ergab, dass einige Versicherungsgesellschaften ab den Jahren 2022 bis 2025 Schwierigkeiten haben könnten, die Garantieversprechen an die Versicherungsnehmer zu erfüllen. Ferner stellte EIOPA fest, dass der Versicherungssektor in einem so genannten „Double-Hit“-Stressszenario besonders verwundbar ist. Dieses kombiniert einen abrupten Marktwertrückgang auf Kapitalanlagen mit einem niedrigen Zinsniveau. Laut der Untersuchung wären im extremsten Fall 44 % der europäischen Teilnehmer am Stresstest unter Solvency II nicht ausreichend kapitalisiert. Aus diesem Grund wird im aktuellen EIOPA-Stresstest 2016 ein solches „Double-Hit“-Szenario erneut unter die Lupe genommen. Gerade in Zeiten einer äußerst expansiven Geldpolitik seitens der EZB, in der erste Marktteilnehmer auf die Gefahr von Blasenbildungen – beispielsweise auf Aktien- und Immobilienmärkten – hinweisen, ist der Eintritt eines kombinierten Stressereignisses nicht mehr völlig unrealistisch. Das konkrete Szenario des EIOPA-Stresstestes 2016 erscheint aber extrem unwahrscheinlich.

Neben der reinen Ergebnisvorstellung hat EIOPA darüber hinaus aus den 2014 gewonnenen Erkenntnissen explizite Handlungsempfehlungen für die Versicherungsgesellschaften abgeleitet und formuliert. Basierend auf dem Niedrigzinsszenario wurden die Unternehmen unter anderem dazu aufgefordert, sich intensiv mit möglichen Maßnahmen zum Management der Durationslücke zwischen Aktiva und Passiva zu befassen. Da die verschiedenen Durationskonzepte in ihrer jeweiligen Aussagekraft aber teilweise erheblich voneinander differieren, lohnt es sich, diese nachfolgend näher zu betrachten.

Das Konzept der Duration zielt auf zwei wesentliche miteinander verknüpfte Fragestellungen zu festverzinslichen Wertpapieren ab. Zum einen wird untersucht, wie lange Kapital durchschnittlich in einem bestimmten Investment gebunden ist, zum anderen wie der Marktwert des Wertpapiers auf Änderungen des Zinsniveaus reagiert. Die durchschnittliche Kapitalbindungsdauer wird typischerweise über die „Macaulay Duration“ in der Maßeinheit Jahren gemessen. Sie gibt die durchschnittliche Zeit an, bis der Investor alle Zahlungsströme, die mit dem Wertpapier verbunden sind, erhalten hat. Die Preissensitivität eines Wertpapiers – also die Änderung des Marktwerts aufgrund einer Zinsschwankung – wird klassischerweise über die „Modified Duration“ gemessen. Diese gibt die prozentuale Veränderung des Marktwerts der Investition an, wenn sich die Rendite geringfügig verändert. Beiden Konzepten ist gemein, dass ihr Anwendungsbereich auf fixe Zahlungsströme ausgerichtet ist. Verfügen die Wertpapiere zudem über inhärente Optionen, wie beispielsweise Kündigungsrechte, wird dies in der so genannten „Effective Duration“ berücksichtigt. Hier wird die Barwertänderung unter einer Verschiebung der gesamten Zinsstrukturkurve nach oben und unten betrachtet, wobei die Höhe der Auslenkung frei wählbar ist (häufig 50 oder 100 Basispunkte). Lediglich unter sehr restriktiven Annahmen und Bedingungen nehmen die drei Konzepte identische Werte an. Ein Vorteil aller Durationskonzepte ist hingegen die Übertragbarkeit auf spezifische Investmentportfolien sowie Verpflichtungspositionen und somit letztlich auf die gesamte Versicherungsbilanz.

Letztere besteht bei Versicherern im Wesentlichen aus Kapitalanlagen auf der Aktivseite, hauptsächlich in Form festverzinslicher Anlagen, sowie versicherungstechnischen Rückstellungen auf der Passivseite. Die Analyse von Cash Flows im EIOPA-Stresstest 2014 basierte zu großen Teilen auf dem Konzept der „Macaulay Duration“ und berücksichtigte somit keinerlei Optionen – weder auf der Aktiv- noch der Passivseite. Gerade für die deutschen Lebensversicherer ist dies jedoch zu kurz gegriffen, sofern Erkenntnisse über die Sensitivität der Eigenmittel gewonnen werden sollen. Die Auszahlungen bestehen hier nämlich nicht nur aus kontinuierlichen Cash Flows, sondern sind in ihrer absoluten Höhe in beträchtlichem Maße zinsabhängig, da neben der Garantieverzinsung zusätzliche Überschussanteile an die Versicherungsnehmer ausgeschüttet werden. Diese hängen maßgeblich von der Unternehmensperformance ab, welche wiederum aufgrund der Struktur der Aktivseite in hohem Maße zinsgetrieben ist. Ferner sind üblicherweise die Annahmen über das Stornoverhalten der Versicherungsnehmer in gewissem Umfang zinsabhängig, was ebenfalls dazu beiträgt, dass auch die absolute Höhe der Cash Flows zinsabhängig ist. Bei der Berechnung der Passivduration im EIOPA-Stresstest 2014 wurden somit erfolgsabhängige Auszahlungsoptionen, die ein prägnantes Merkmal der konventionellen deutschen Lebensversicherung sind, außer Acht gelassen. Infolgedessen führten die Durationsergebnisse für die Verbindlichkeiten deutscher Lebensversicherer zu einer verzerrten Darstellung ihrer Zinssensitivität. Die Änderung der Eigenmittelposition der deutschen Lebensversicherer in Abhängigkeit vom Zinsniveau kann daher mit dem Duration Gap, das auf Basis der „Macaulay Duration“ ermittelt worden ist, nicht adäquat geschätzt werden. Die Wahl eines alternativen Durationskonzepts wie beispielsweise der „Effective Duration“ könnte hier Abhilfe schaffen, da in diesem Fall insbesondere die Berücksichtigung von Auszahlungsoptionen der Versicherer ein realistischeres Bild der Passivduration zeichnen würde. Infolgedessen würde der Duration Gap bei vielen Anbietern sinken und sich letztlich auch die Eigenmittelposition solider darstellen.

In der 2016er Auflage des EIOPA Stresstests wird es spannend sein zu beobachten, wie die Unternehmen im Vergleich zu 2014 insbesondere im „Double-Hit“-Stressszenario abschneiden (wobei nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die Kalibrierung der Stressszenarien sowie weitere jeweilige Stresstest-Spezifika bei einem derartigen Vergleich berücksichtigt werden sollten). Hier wird sich zudem zeigen, ob seitens der Branche auch für den Fall eines Extremszenarios weitere und ausreichende Maßnahmen zur Stärkung der Bilanz ergriffen wurden. Da ein Szenario langanhaltend niedriger Zinsen bei gleichzeitig fallenden Marktwerten auf Kapitalanlagen zudem nicht mehr so abwegig erscheint wie noch 2014, darf zumindest angezweifelt werden, ob die Akteure am Markt wiederum so gelassen auf die Ergebnisse reagieren werden. Nicht zuletzt, da bereits 2014 annähernd die Hälfte der teilnehmenden Unternehmen ein solches Szenario nicht bestanden hätte. Auch hier ist aber zu berücksichtigen, dass das konkrete Szenario extrem unwahrscheinlich ist. Aufgrund der engen methodischen Anlehnung der 2016er Version des EIOPA-Stresstests an den von 2014 dürften die Ergebnisse verschiedener Unternehmen und Länder auch dieses Mal schwer zu vergleichen sein. Gerade in Ländern wie Deutschland, in denen überwiegend noch klassische Lebensversicherungsprodukte mit Garantiezins und erfolgsabhängiger Überschussbeteiligung im Umlauf sind, ist die Auswirkung auf die Eigenmittelposition aufgrund der gewählten Durationsmethodik nur bedingt aussagekräftig. Somit erscheint ein länderübergreifender Stabilitätsvergleich, beispielsweise mit angelsächsischen Lebensversicherern, die ein völlig anderes Produktkonzept mit abweichenden Zahlungsströmen verfolgen, zumindest problematisch. Vor diesem Hintergrund stehen auch mögliche Handlungsempfehlungen seitens der europäischen Aufsicht unter dem Vorbehalt der methodischen Passgenauigkeit für die spezifischen Länderbedingungen und Versicherertypen.

 

1 http://www.gdv.de/2014/12/die-versicherer-in-europa-verfuegen-ueber-ein…

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