Die Ermittlung der Kapitalanforderungen im Modul der Versicherungstechnik Kranken spiegelt das Risiko wider, das sich aus den Krankenversicherungsverpflichtungen ergibt, also aus denjenigen Versicherungsleistungen, die durch Krankheit, Invalidität oder Unfall ausgelöst werden.
Diese Versicherungsleistungen unterliegen den folgenden Risiken:
- Änderungsrisiko
- Schwankungsrisiko
- Katastrophenrisiko
Zur Erfassung des versicherungstechnische Risiko der Krankenversicherung ist dieses, wie in der Delegierten Verordnung beschrieben, in drei Submodule aufgeteilt, die sich ihrerseits auf eine Reihe Teilrisiken verzweigen.
Für jeden einzelnen Vertrag muss im Zuge dessen entschieden werden, ob er „nach Art der Leben“ (SLT – similiar to life techniques), oder „nach Art der Schaden“ (Non SLT – non similar to life techniques) zu klassifizieren ist. Im Anschluss daran wird bei der Berechnung der Solvenzkapitalanforderung auf die jeweilige Risikokategorie Versicherungstechnik Leben beziehungsweise Nichtleben und deren Teilrisiken zurückgegriffen.
Dies bedeutet beispielsweise für einen Vertrag der Krankenvollversicherung, der typischerweise „nach Art der Leben“ berechnet wird, dass sein Risikokapital sich aus den Anforderungen zusammensetzt, die aus den biometrischen (Sterblichkeit, Langlebigkeit, Krankheit) und sonstigen Risiken (Storno, Kosten, Revision) resultieren.
Die Kapitalanforderungen eines Vertrages der Auslandskrankenversicherung, der als „nach Art der Schaden“ einzustufen ist, ergeben sich aus der Betrachtung des Prämien- und Reserverisikos sowie des Stornorisikos. Gesondert davon wird zusätzlich das Katastrophenrisiko betrachtet.
Zu Berechnung der Kapitalanforderungen aus den genannten Teilrisiken verweist die Delegierten Verordnung explizit auf die originären Risikokategorien Versicherungstechnik Leben und Nichtleben.
Festzuhalten ist an dieser Stelle die unterschiedliche Ausgestaltung der zwei Module. Während das Modul VT Leben nahezu ausschließlich mit einer szenarienbasierten Betrachtung arbeitet, ergeben sich die Kapitalanforderungen im Modul VT Nichtleben durch faktorbasierte Ansätze.
Die folgende Tabelle soll als Überblick über die unterschiedlichen Berechnungsanforderungen dienen.
Risiko | Risiko | Szenario bzw. Faktor |
---|---|---|
Kranken nach Art der Leben |
Sterblichkeitsrisiko | Dauerhafter Anstieg der Sterblichkeit um 15 % |
Langlebigkeitsrisiko | Dauerhafter Rückgang der Sterblichkeit um 20 % | |
Invaliditäts- und Krankheitsrisiko | Dauerhafter Anstieg des Invaliditäts- und Krankheitsrisiko um 35 % zzgl. einmalig um 10 % im ersten Jahr | |
Krankheitskostenrisiko | Dauerhafter Anstieg der Krankheitskosten um 5 % sowie 1 % (relativ sowie absolut i.S.e. Inflation) | |
Dauerhafter Rückgang der Krankheitskosten um 5 % sowie 1 % (relativ sowie absolut i.S.e. Deflation) | ||
Allgemeines Kostenrisiko | Dauerhafter Anstieg der Krankheitskosten um 10 % sowie 1 % (relativ sowie absolut i.S.e. Inflation) | |
Stornorisiko | Dauerhafter Anstieg des Stornos um 50 % | |
Dauerhafter Rückgang des Stornos um 50 % | ||
Massenstorno von 40 % der Verträge | ||
Revisionsrisiko | Vorgegebener Aufwand | |
Kranken nach Art der Schaden |
Prämien- und Reserverisiko | Vorgegebener Faktor ![]() |
Stornorisiko | Dauerhafter Anstieg des Stornos um 50 % | |
Dauerhafter Rückgang des Stornos um 50 % | ||
Katastrophenrisiko | Massenunfallrisiko | Vorgegebene Faktoren je Risiko und Tarifgruppe |
Unfall-Konzentrationsrisiko | ||
Pandemierisiko |
Krankenversicherungspolicen, die nach Art der Leben berechnet werden, unterliegen bei der Berechnung der Kapitalanforderungen dem szenarienbasierten Ansatz. Ausgangspunkt für die Betrachtung bildet die Erstellung einer Marktwertbilanz und die damit einhergehende Neubewertung der versicherungstechnischen Verpflichtungen. So sind die konservativ kalkulierte aufsichtsrechtliche Alterungsrückstellung samt der Rückstellung für erfolgs(un)abhängige Beitragsrückerstattung durch das Best Estimate der Verpflichtungen zuzüglich einer expliziten Risikomarge zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund findet ein Übergang von den Rechnungsgrundlagen erster Ordnung und des Rechnungszinses zu realitätsnahen und unternehmensindividuellen Rechnungsgrundlagen sowie einem risikofreien Marktzins statt. Dabei sind alle relevanten zukünftigen Entwicklungen in Bezug auf wirtschaftliche, medizinische, soziale und demographische Veränderungen zu antizipieren und zu berücksichtigen. Das Best Estimate soll außerdem die zukünftige Entwicklung der Überschussbeteiligung für die Versicherungsnehmer reflektieren.
Die Neubewertung der versicherungstechnischen Rückstellungen bildet die Basis zur Erstellung der Marktwertbilanz. Letztere ist ihrerseits die Grundlage für die Berechnung der Kapitalanforderungen.
Zur Ermittlung der Solvenzkapitalanforderungen pro Teilrisiko müssen die folgenden Schritte durchlaufen werden:
- Erstellen einer Marktwertbilanz unter Best Estimate
- Erstellen einer Marktwertbilanz unter dem jeweiligen Stressszenario
- Ermittlung der Kapitalanforderungen als Delta der neubewerteten Alterungsrückstellungen
Durch zulässige zukünftige Beitragsanpassungen und der damit einhergehenden Angleichung der versicherungstechnischen Verpflichtungen eröffnet sich einem Krankenversicher die Möglichkeit, entstehenden Kapitalanforderungen entgegenzuwirken.
Deterministische Ermittlung der Erwartungswertrückstellung möglich?
Muss der Versicherer die Beiträge erhöhen oder das Leistungsvolumen vermindern, so verfügt der Versicherungsnehmer über ein außerordentliches Kündigungsrecht. Es ist daher von zentralem Interesse das Modell zur Ermittlung der zukünftigen Zahlungsströme so zu kalibrieren, dass Ursache-Wirkung-Prozesse darin korrekt und realistisch abgebildet werden (z.B. ein erhöhtes Storno aufgrund von Beitragsanpassung). In der Regel reicht dazu ein deterministisches Modell nicht aus, stochastische Simulationen sind nötig.
Die Beitragsanpassungsklausel der Krankenversicherung ermöglich jedoch auch eine vereinfachende deterministische Berechnung der Erwartungswertrückstellung.
Ursprünglich von der Bundesanstalt für Finanzdientsleistungsaufsicht (BaFin) und inzwischen vom Verband der Privaten Krankenversicherer unter Aufsicht des BaFin weitergeführt, geht die „Hilfestellung zur inflationsneutralen Berechnung der Erwartungswertrückstellung in der Krankenversicherung nach Art der Lebensversicherung“ (InBV) davon aus, „… dass die zusätzlichen ausgehenden Zahlungsströme aufgrund Krankheitskosteninflation und die zusätzlichen eingehenden Zahlungsströme durch Beitragsanpassungen sich im Wert ausgleichen“.
Die Erwartungswertrückstellung ergibt sich in diesem Verfahren durch folgende Schritte:
- Neudiskontierung der HGB-Alterungsrückstellung (NDR)
- Berücksichtigung der Zinsträger und übrigen versicherungstechnischen Erträge im Zahlungsstrom
- Ermittlung der zukünftigen Überschussbeteiligung der Versicherungsnehmer (ZÜB)
Es gilt dann:
Best Estimate = NDR + ZÜB.
Grundlage für die Ermittlung der Kapitalanforderung für die versicherungstechnischen Risiken bildet schließlich die Ermittlung der Erwartungswertrückstellung vor und nach Stress dar unter Berücksichtigung der risikomindernden Wirkung aus der ZÜB. Die Veränderung der Erwartungswertrückstellung entspricht der Veränderung der vorhandenen Solvenzmittel, woraus sich letztlich die Kapitalanforderung ergibt.
Die Anwendung dieses Verfahrens bedeutet eine deutliche Erweiterung der Die Anforderungen an deutsche Krankenversicherer zur Ermittlung des Solvenzkapitalbedarfs. Auch wenn mit der InBV auf eine noch komplexere stochastische Simulation verzichtete werden konnte, stellt die Umsetzung dieses einen nicht zu unterschätzenden Mehraufwand dar.
Das InBV, welches jährlich von einem unabhängigen Wirtschaftsprüfer auf seine Ordnungsmäßigkeit geprüft wird, ist inzwischen etablierter Ansatz in der Krankenversicherung.