Im Herbst 2015 äußerte sich Dr. Frank Grund, BaFin-Exekutivdirektor Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht, auf der zwölften internationalen Konferenz des Gesamtverbands der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) unzufrieden zu den bis dahin im Vorfeld des Inkrafttretens von Solvency II erstellten ORSA-Berichten. Diese hätten oft nicht ausreichend Tiefgang und es mangele ihnen an Qualität. 1 Seitdem sind anderthalb Jahre vergangen, in denen die Versicherer die Möglichkeit hatten, ihre Prozesse weiterzuentwickeln und (mindestens einen) weiteren ORSA-Bericht zu liefern. Im Zuge der interaktiven Rating-Prozesse hat Assekurata bereits einen genauen Blick in einige dieser Dokumente geworfen, so dass die Analysten nun eine eigene Einschätzung zur aktuellen Qualität der ORSA-Berichte geben können.
ORSA
Unter Solvency II ist jedes Versicherungsunternehmen dazu verpflichtet, mindestens einmal jährlich einen ORSA-Prozess durchzuführen. In diesem soll sich der Versicherer mit seinem eigenen Risikoprofil, seiner aktuellen wirtschaftlichen Position sowie den grundlegenden Anforderungen von Solvency II intensiv auseinandersetzen und schließlich die BaFin in einem aufsichtlichen ORSA-Bericht über die Ergebnisse und Schlussfolgerungen informieren. Für die BaFin hat der ORSA-Bericht im Rahmen ihrer Aufsichtspraxis eine hohe Relevanz, da sie hier komprimiert viele wichtige Informationen zur wirtschaftlichen Position, dem Risikomanagement sowie den Governance-Strukturen eines Versicherers erhält.
Für eine Qualitätseinschätzung des ORSA-Prozesses und der darauf basierenden Berichte ist die Feststellung wichtig, dass es sich beim ORSA um eine unternehmenseigene Risikobetrachtung handelt. Die Rechtsgrundlagen sind daher prinzipienorientiert ausgerichtet; eine allgemeingültige Anleitung im Sinne einer simplen „Checkliste“ kann es naturgemäß nicht geben. Vorgaben für den ORSA-Prozess liefern im Wesentlichen von der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) veröffentliche Leitlinien nebst Erläuterungen sowie Auslegungsentscheidungen der BaFin. Diese Vorgaben lassen Versicherungsunternehmen – ganz im Sinne der ORSA-Zweckbestimmung – recht viel Freiraum bei der Durchführung ihres ORSA-Prozesses und der Erstellung des ORSA-Berichts. Dieser Freiraum birgt aber gleichzeitig Interpretationsspielräume und Fehlerquellen. Daher wünschen sich viele Versicherer ein aussagekräftiges Feedback, um auf dieser Basis etwaige Schwachstellen und Verbesserungspotenziale möglichst frühzeitig erkennen und aus dem Weg räumen zu können. Wie vielschichtig diese gelagert sein können, zeigt ein genauerer Blick auf die Qualitätsmerkmale des ORSA-Berichts.
Anforderungen des ORSA-Berichts
Um zu beantworten, ob ein ORSA-Bericht qualitativ hochwertig ist, sollten zunächst die formalen Anforderungen genauer betrachtet werden. Für den ORSA-Bericht ist bewusst keine bestimmte Struktur vorgegeben, das heißt jedes Versicherungsunternehmen kann frei entscheiden, wie es seinen ORSA-Bericht gestaltet. Folglich unterscheiden sich die ORSA-Berichte in der Praxis hinsichtlich Aufbau und Detaillierungsgrad sehr deutlich. In einigen werden sehr ausführlich die allgemeinen Anforderungen, Annahmen von Stresstests und die Durchführung des ORSA-Prozesses beschrieben. Andere ORSA-Berichte stellen hingegen nur knapp, mehr oder weniger übersichtlich, die Ergebnisse des ORSA-Prozesses dar.
Mit Blick auf die eigentlichen Inhalte müssen Versicherungsunternehmen im Rahmen des ORSA-Prozesses drei große Kernelemente behandeln:
- Bestimmung des Risikokapitalbedarfs, welcher zur Deckung des eigenen Risikoprofils erforderlich ist, unabhängig von den Annahmen der SCR-Berechnung
- Prüfung, ob auch in den folgenden Jahren die Kapitalanforderungen der Säule 1 prospektiv erfüllt werden
- Vergleich des eigenen Risikoprofils mit dem für die Berechnung des SCRs angenommenen Risikoprofils
Das Ziel des aufsichtlichen ORSA-Berichts, externe Dritte, hier maßgeblich die Mitarbeiter der BaFin, möglichst nachvollziehbar über die Ergebnisse des ORSA-Prozesses zu informieren, sollte bei der Gestaltung stets berücksichtigt werden. Bei einer tiefgehenden Beurteilung von ORSA-Berichten ist deshalb nicht nur auf die Erfüllung der „harten“ Anforderungen zu achten, sondern ergänzend auch zu prüfen, ob Struktur, Fokussierung sowie das allgemeine Erscheinungsbild dazu geeignet sind, die Ergebnisse des ORSA-Prozesses einem fachkundigen Dritten hinreichend verständlich zu erläutern.
Die Kritik von Dr. Grund im Herbst 2015 hat in gewissem Maße Wirkung gezeigt, denn mittlerweile entspricht ein Großteil der von Assekurata gesichteten ORSA-Berichte weitgehend zumindest den gesetzlichen Anforderungen. Bei den drei Kernelementen finden sich selten große Lücken. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Dokumente insgesamt frei von Schwachstellen sind – denn bei allen Berichten offenbaren sich noch teilweise erhebliche Verbesserungspotenziale.
Mögliche Verbesserungspotenziale
Vielen Berichten mangelt es beispielsweise an einer klaren Adressatenorientierung. Dabei liegt es im Interesse eines fachkundigen Lesers, dass er in die Lage versetzt wird, den ORSA-Bericht ohne große Schwierigkeiten und explizite Nachfragen zu verstehen. Dies fällt in der Praxis bisweilen schwer. Manche ORSA-Berichte entstammen augenscheinlich dem hausinternen Sprach- und Abkürzungsgebrauch, der einem externen Leser nicht unmittelbar geläufig ist. So werden häufig, ohne eine vorherige Erläuterung, (interne) Abkürzungen verwendet, die mutmaßlich im Unternehmen geläufig und verständlich sind, jedoch das Verständnis für externe Leser enorm erschweren. Werden die verwendeten Abkürzungen dann nicht separat in einem Abkürzungsverzeichnis erläutert, kann ein externer Leser die genauen Aussagen oft nur erahnen.
Anderen Berichten wiederum fehlt es an sprachlicher Präzision. Ein Beispiel hierfür ist die fehlerhafte oder unsystematische Verwendung von Fachwörtern bzw. Abkürzungen, beispielsweise SCR (Solvency Capital Requirement) und GSB (Gesamtsolvabilitätsbedarf). Im Gegensatz zum SCR, der regulatorisch-modellbasierten Risikokapitalanforderung, stellt der GSB die Kapitalanforderung gemäß unternehmenseigener Risikosicht dar. Die Begriffe stehen zwar beide im weitesten Sinne für den Risikokapitalbedarf eines Versicherers, sind aufgrund der unterschiedlichen Berechnungsweisen aber nicht synonym zu verwenden, wie teilweise in der Praxis festzustellen.
Wiederum andere ORSA-Berichte enthalten für den Leser eher irrelevante oder redundante Informationen. So kommt es vor, dass beispielsweise zunächst auf vielen Seiten die (theoretische) Funktion von Solvency II und ORSA genau beschrieben wird, was für den fachkundigen Leser unerheblich sein dürfte. Vielmehr erschwert dies den Überblick, sofern sich in langen und vermeintlich entbehrlichen Textpassagen tatsächlich relevante Informationen befinden, welche so möglicherweise schwer zu identifizieren sind.
Nicht alle ORSA-Berichte enthalten dagegen ausschweifende Texte. Einige Versicherer beschränken sich auf die wesentlichen Informationen, bei denen der geforderte Inhalt zum Teil stichpunktartig oder in Tabellen dargestellt wird, was die Informationserfassung erleichtern kann. Allerdings geht in der Praxis diese Erleichterung oft mit inhaltlichen Lücken einher, so dass nicht pauschal festgestellt werden kann, dass kurze, skizzenhafte ORSA-Berichte zwangsläufig besser abschneiden als (übermäßig) ausführliche. Die Kunst liegt darin, einen geeigneten Mittelweg zu finden.
Fazit
Im Zuge des Inkrafttretens von Solvency II haben viele Versicherer Kraft und Energie in die Weiterentwicklung des ORSA-Prozesses und der zugehörigen Berichtslegung investiert. In der Folge sind Verbesserungen klar erkennbar. Viele Gesellschaften erstellen mittlerweile aussagekräftige ORSA-Berichte, die dem eigentlichen Aufsichtszweck entsprechen und der BaFin einen geeigneten Blick auf das unternehmensinterne Risiko- und Governance-System geben können. Gleichwohl offenbart ein Blick ins Detail deutliche Qualitätsunterschiede. Die ORSA-Berichte einiger Versicherer erfüllen die meisten grundlegenden Anforderungen und haben lediglich geringe Schönheitsfehler
Demgegenüber decken andere knapp die „harten“ Anforderungen ab und offenbaren im Gegenzug viel Verbesserungspotenzial.
Folglich ist davon auszugehen, dass die Qualität der ORSA-Berichte auch in Zukunft eine hohe Relevanz haben wird. Dies gilt nicht nur aufgrund ihrer elementaren Funktion im Solvency-II-Regelwerk, sondern auch wegen der hohen Erwartungshaltung und der sensiblen Wahrnehmung der BaFin, die sich auch in der Ratingpraxis nachvollziehen lässt.
1 Solvency II: BaFin setzt auf Dialog und Manndeckung; Versicherungswirtschaft heute vom 13.10.2015; http://versicherungswirtschaft-heute.de/politics/solvency-ii-bafin-setz…
(abgerufen: 30.03.2017)
Hintergrundinformationen
Auf Basis von empirischen Analysen und Erfahrungswerten aus den interaktiven Rating-Prozessen bietet die ASSEKURATA Assekuranz Rating-Agentur GmbH interessierten Versicherern ein ORSA-BerichtsASSessment (kurz ORSA-BASS) an.
Beim ORSA-BASS wird der aufsichtliche ORSA-Bericht anhand detaillierter Prüfkriterien hinsichtlich seiner Qualität in fünf Oberkategorien untersucht und in eine Assekurata-Expertenmeinung überführt, die in Form eines Berichts dokumentiert wird. Mit dem ORSA-BASS erhalten Unternehmen ein detailliertes Stärken-Schwächen-Profil zum eigenen ORSA-Bericht, das zur Sicherheit in der Managementverantwortung beitragen, die Kommunikation gegenüber der BaFin festigen und den am ORSA beteiligten Mitarbeitern ein wertvolles Feedback geben kann. Selbstverständlich werden alle Unterlagen und Informationen vertraulich behandelt.
Ihre Ansprechpartnerin: Kerstin Voß, Tel. 0221/27221-28, solvency@assekurata.de.