Die neuen Solvenzanforderungen nach Säule 1 stellen eine erhebliche Umstellung des Bewertungssystems dar, weg von einer buchwert- und hin zu einer marktwertbasierten Bewertung, welche die individuelle Risikosituation der Unternehmen grundsätzlich deutlich stärker berücksichtigt als die früheren Solvabilitätsnachweise. Allerdings beeinflussen die Individualisierungsmöglichkeiten, wie etwa die Justierung der Modellregeln und Nutzung von unternehmensspezifischen Parametern, die neuen Solvenzquoten zum Teil beträchtlich. Zur Erleichterung bei der Bewertung langfristiger Garantien können die Unternehmen darüber hinaus auf so genannte Long-Term-Guarantee (LTG)-Maßnahmen zurückgreifen. Die deutschen Versicherer nutzen hier neben der Volatilitätsanpassung insbesondere die zeitlich begrenzte Übergangsmaßnahme zur Bewertung versicherungstechnischer Rückstellungen. Durch die unterschiedliche Herangehensweise an die Solvenzberechnungen sind die SCR-Quoten der einzelnen Unternehmen für sich genommen nur begrenzt miteinander vergleichbar.
Die Governance-Prozesse nach Säule 2 umfassen die Einrichtung geeigneter Prozesse, die vor allem das Risikomanagement, die unternehmenseigene Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung (Own Risk and Solvency Assessment – ORSA), die interne Kontrolle, die interne Revision, die versicherungsmathematische Funktion und das Outsourcing betreffen. Ein Kernelement des Governance-Systems ist dabei nach Einschätzung von Assekurata der ORSA-Prozess. Hier geht es darum, das unternehmenseigene Risikoprofil und den daraus resultierenden internen Risikokapitalbedarf kontinuierlich zu analysieren und zu bewerten, und zwar weitgehend unabhängig von der Ermittlung der aufsichtsrechtlichen Solvenzkapitalanforderung. Dieser Prozess der Risiko- und Kapitalsteuerung ist in den Gesamtprozess der strategischen Unternehmenssteuerung einzubetten. Durch ORSA soll sich das Versicherungsunternehmen intensiv mit seinen aktuellen und zukünftigen Risiken auseinandersetzen und kontinuierlich sein Risikoprofil bestimmen. Dabei sind die Unternehmen dazu angehalten, die (langfristigen) Risiken und Veränderungen von externen Faktoren zu berücksichtigen. Hierzu zählen beispielsweise Veränderungen, die sich aus der Unternehmensplanung ergeben sowie Änderungen auf den Finanz- und Versicherungsmärkten oder in der Rechtsprechung. Nicht zuletzt dient ORSA dazu, den internen Bedarf an Eigenmitteln zu ermitteln, den die Versicherungsunternehmen benötigen, um die sich aus der Geschäftstätigkeit ergebenden Verpflichtungen dauerhaft zu erfüllen. Damit dient ORSA vor dem Hintergrund der unternehmensindividuellen Risikoexponierung und der langfristigen Unternehmensplanung auch dazu, die Angemessenheit der aufsichtsrechtlichen Kapitalanforderung zu überprüfen und kritisch zu hinterfragen.
Solvency II ist ein Aufsichts- und Frühwarnsystem zugleich. Dementsprechend müssen Unternehmen über ihre Finanzlage, Risiken und wesentlichen Geschäftsbereiche auch berichten. Die Berichterstattung (Säule 3) erfolgt nicht nur gegenüber der BaFin, sondern auch gegenüber der Öffentlichkeit. Die Unternehmen und Unternehmensgruppen müssen die BaFin regelmäßig über wesentliche Kennzahlen und Entwicklungen informieren. Dazu übermitteln die Versicherer ihre Datensätze in einem standardisierten Format. Diese elektronischen Meldeformulare (Quantitative Reporting Templates – QRTs) geben detailliert Auskunft zur aktuellen Entwicklung der Finanz- und Vermögenslage, insbesondere zu den Solvenzkapitalanforderungen. Zusätzlich zu den Quartalsdaten müssen die Unternehmen regelmäßig Berichte erstellen, die neben wesentlichen Daten und Kennzahlen auch qualitative Einschätzungen enthalten.
Ausschließlich an die Aufsichtsbehörde richtet sich der RSR (Regular Supervisory Report). Dieser umfasst detaillierte Erläuterungen zur Geschäftsentwicklung, zum Risikoprofil oder auch zur Bewertung von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten. Ebenfalls ausschließlich für die Aufsicht (und für interne Zwecke) bestimmt ist der Bericht über die Ergebnisse des ORSA-Prozesses.
Für Kunden, Investoren und die interessierte Öffentlichkeit relevant ist der SFCR, der Bericht zur Solvenz- und Finanzlage. Diesen müssen die Unternehmen nach Ablauf jedes Geschäftsjahres in bestimmter Frist veröffentlichen. Der SFCR informiert qualitativ und quantitativ unter anderem über die wesentlichen wirtschaftlichen Ergebnisse, wichtige Ereignisse des vergangenen Geschäftsjahres und die aktuelle Solvenzsituation des Unternehmens. Der Unterschied zum RSR liegt vornehmlich in einer geringeren Detailtiefe, da die Aufsicht detailliertere Informationen erhält als die Öffentlichkeit.
Zum 22. Mai 2017 mussten die Versicherungsunternehmen erstmals den SFCR veröffentlichen. Eine erste Analyse der Berichte lässt deutliche Unterschiede hinsichtlich der Qualität und auch des Umfangs erkennen. Offenbar müssen sich hier marktweit erst noch Standards durchsetzen. Förderlich hierfür wäre sicherlich ein intensiver Austausch zwischen den Versicherungsunternehmen, Branchenexperten und der Aufsicht.
Der Aufwand für die Umsetzung von Solvency II ist für die Unternehmen sehr hoch. So werden zum Beispiel bei der Modellierung der Szenarien im Rahmen des ORSA erhebliche aktuarielle und technische Ressourcen gebunden. Für die Bereitstellung der Meldedaten und die Verwendung der Modelle werden in der Regel spezielle EDV-Programme benötigt, deren Implementierung vergleichsweise teuer ist und die mit hohem Aufwand an die vorhandenen Systeme und Datenbanken angebunden werden mussten. Besonders für kleinere Unternehmen sind die aufzuwendenden Ressourcen für die Umsetzung von Solvency II, gerade auch mit Blick auf die regelmäßigen Dokumentationsanforderungen, in Relation zum Geschäftsvolumen erheblich. Zwar soll bei der Umsetzung von Solvency II der Grundsatz der Proportionalität berücksichtigt werden, in der Praxis lassen sich nach Erkenntnissen von Assekurata jedoch bisher kaum Erleichterungen aufgrund einer geringeren Komplexität der Geschäftsmodelle für kleinere bzw. einfach strukturierte Gesellschaften feststellen. Da die Unternehmen für die konkrete Anwendung des Proportionalitätsgrundsatzes eigene Leitregeln und Handlungsfelder definieren müssten, deren Akzeptanz in der Aufsichtspraxis ex ante unklar ist, scheuen sie vielfach davor zurück. Auch hier muss sich das neue Solvenzregime aus Sicht von Assekurata erst noch einspielen.
Der Aufwand für die Erstellung eines internen Modells ist ebenfalls erheblich, so dass nur größere Unternehmen ein internes Modell entwickeln (können). Zudem ist die Zertifizierung eines ebensolchen Modells durch die BaFin keine leichte Hürde, weshalb einige Versicherer, die ein internes Modell entwickelt haben, dieses lediglich für interne Zwecke bzw. den ORSA-Prozess nutzen und demgegenüber den aufsichtsrechtlichen SCR nach der Standardformel berechnen.
Mit dem Ziel einer verbesserten Verbraucherinformation werden gemäß den Vorgaben von Solvency II eine Fülle von zusätzlichen Informationen veröffentlicht. Allein die QRTs, die im Rahmen des SFCR zusätzlich zum narrativen Teil veröffentlicht werden, enthalten für ein Einzelunternehmen mehr als 1.500 Datenfelder. Zweifelhaft bleibt dabei, ob die Verbraucher aus der Vielzahl von Informationen die für sie relevanten Informationen herausfiltern und sachgerecht interpretieren können. Selbst ein gut verfasster SFCR ist aufgrund der Komplexität der Inhalte für einen Laien kaum zu interpretieren. Ohnehin lässt sich die finanzielle Stabilität eines Versicherers nicht nur anhand der SCR-Quoten beurteilen. Zum einen ist die Solidität eines Unternehmens nicht allein von seiner finanziellen Kapitalausstattung, sondern beispielswiese auch von der Qualität seiner Geschäftsorganisation und seines internen Risikokontrollsystems abhängig. Zum anderen können auch bei der Verwendung des Standardmodells unternehmensindividuelle Anpassungen vorgenommen werden, die eine unmittelbare Vergleichbarkeit der Quoten erschweren. An dieser Stelle bedarf es eines fachkundigen Intermediärs, der die vorhandenen Daten verdichtet, interpretiert und eine ganzheitliche Bewertung von Versicherungsunternehmen vornimmt, die sich nicht allein an den Solvency-II-Quoten orientiert. Dabei darf und sollte auch die handelsrechtliche Perspektive nicht unberücksichtigt bleiben.
Hinsichtlich der konkreten Solvenzquoten lässt sich herausstellen, dass zum 31.12.2016 keines der aufsichtspflichtigen Unternehmen gemäß den aufsichtlichen Kapitalanforderungen von Solvency II unterdeckt war. Die Bedeckung der Solvenzkapitalanforderung mit Eigenmitteln beträgt im Durchschnitt über alle Sparten hinweg rund 330 Prozent. 1 Vor allem wegen der anhaltend niedrigen Kapitalmarktzinsen können insbesondere zahlreiche Lebensversicherer die aufsichtsrechtlichen Solvenzkapitalanforderungen nur durch die Inanspruchnahme von Erleichterungsmaßnahmen erfüllen. Somit müssen viele Unternehmen bis zum Ende der Übergangsfrist von 16 Jahren noch (umfangreiche) Maßnahmen umsetzen, um die Solvenzanforderungen ohne modellhafte Unterstützungsmaßnahmen zu erfüllen. 2
1 Vgl. BaFin, Erste Jahreszahlen nach Einführung von Solvency II; BaFin-Pressemitteilung vom 09.06.2017; https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Pressemitteilung…; abgerufen am 20.07.2017.
2 Eine umfassende Detailanalyse zur Situation in der Lebensversicherung wird in einem separaten Artikel vorgenommen und auf Solvency II kompakt veröffentlicht.