Eigenkapital wird zu einem sehr knappen Gut
Für die Versicherungsunternehmen wird der Kernnutzen von Solvency II darin liegen, das eigene Geschäftsmodell aus einer neuen Perspektive zu analysieren. Völlig unabhängig von der Rechts- und Finanzierungsform wird Eigenkapital zum kritischen Produktionsfaktor für das Kernprodukt der Versicherer, die Risikotragung, werden.
Für das Versicherungsgeschäft bedeutet das: Nicht mehr nur die strategische Ausrichtung eines Versicherungsunternehmens im Kontext der jeweiligen Marktsituation begründet den Unternehmenserfolg, sondern auch die Risikokapitalallokation. Dies hat Konsequenzen für den Geschäftsfeldmix und damit die Strategie der Versicherungsunternehmen
Jede betriebene Sparte wird im Hinblick auf den unmittelbaren und den absehbaren Kapitaleinsatz hinterfragt werden müssen. Aufgrund der durch Solvency II erforderlichen Eigenkapitalunterlegung wird das Management in Zukunft genauer prüfen müssen, ob man sich jede Sparte wird leisten können. Unter den aktuell erschwerten Zinsbedingungen werden Rückstellungen in den sogenannten Longtail-Sparten, die nicht mehr in das Geschäftsmodell passen, zu hinterfragen sein.
Bei steigenden Eigenkapitalanforderungen unter Solvency II und einem intensiveren Wettbewerb wird Eigenkapital daher zu einem (noch) knapperen Gut werden. Prämienvolumen und Combined Ratio werden als gewichtigste Steuerungsgrößen ausgedient haben.
Altgeschäft bindet unnötig Eigenkapital
Eine gewollte Konsequenz von Solvency II ist die Bindung von Eigenkapital durch versicherungstechnische Rückstellungen. Diese betreffen naturgemäß nicht nur das aktiv betriebene Geschäft sondern auch in der Vergangenheit eingestellte Zweige oder Sparten. Auch hier wird eine Eigenkapitalunterlegung für die im Run-off befindlichen Rückstellungen gefordert.
Nachdem Run-off naturgemäß länger abzuwickelnde Sparten mit meist höheren Volatilitäten betrifft, können die Eigenkapitalanforderungen sogar höher sein als bei dem übrigen Geschäft des Versicherungsunternehmens. Damit wird Eigenkapital für Geschäft gebunden, das längst eingestellt wurde bzw. keine Prämien mehr erwirtschaftet.
Die besondere Aufmerksamkeit gegenüber versicherungstechnischen Rückstellungen von Altgeschäft ist also gerechtfertigt. Bei der durch Solvency II gebotenen Optimierung der Passivseite der Versicherungsbilanz kommt dem proaktiven Umgang mit diesem Altgeschäft eine wachsende Bedeutung zu. Gelingt die Reduktion des Run-offs, so lässt sich kurzfristig nicht nur ein Teil der etwaigen Überreservierung, sondern gebundenes Eigenkapital freisetzen. Dies erhöht den strategischen Spielraum des Unternehmens im Wettbewerb.
Run-off bindet mehr als nur Eigenkapital
Doch Eigenkapital ist nicht das einzige Thema, das im Umgang mit Run-off nach Opportunitätsgesichtspunkten von Bedeutung ist. Auch andere wertvolle Ressourcen des Versicherungsunternehmens werden durch den Run-off gebunden. Der aktive Umgang im Sinne einer ständigen Optimierung der versicherungstechnischen Rückstellungen wird auch deshalb zu einer Pflichtdisziplin werden.
Die bislang eher implizite Steuerung der Passivseite über Underwriting und Schadenbearbeitung erscheint angesichts des dargestellten Hebels nicht mehr ausreichend. Wie bei der Kapitalanlage liegt es auch hier nahe, eine Portfolioperspektive einzunehmen. Das Streben nach attraktivem Neugeschäft und die eher reagible Schadenbearbeitung muss durch das fortwährende Streben nach Optimierung des Passivportfolios ergänzt werden.
Künftig wird es einen Chief Liability Officer geben, der das gesamte Portfolio und die versicherungstechnischen Rückstellungen kontinuierlich analysiert und bewertet. Neue Sparten oder die Einstellung von Randgeschäft werden auf ihre Langzeitwirkung zu untersuchen sein. Mit portfoliobezogenen Maßnahmen wird der Chief Liability Officer jenseits der Schadenbearbeitung nach ergänzenden Finalitätsmöglichkeiten suchen. Dabei werden alle Formen alternativer Risikotransfers zum Rüstzeug des Chief Liability Officers gehören.
Schnelle Verbesserung der Risikokapitalallokation durch Bestandsübertragung
Die Abgabe von Run-off stellt ein sehr effizient umsetzbares Betätigungsfeld für die Versicherungsunternehmen dar. In den vergangenen drei Jahren sind die Rückstellungen für inaktives Geschäft in den Bilanzen der Schaden- und Unfallversicherer um 72 % gestiegen und machen nun im Durchschnitt bis zu 30 % der versicherungstechnischen Rückstellungen aus. Der Abbau von Run-off und damit die Freisetzung von Kapital lassen sich theoretisch durch vier Methoden erreichen:
- Die retrospektive Maximierung der Rückversicherung,
- die Bestandsübertragung an einen Dritten,
- die Verbriefung und
- die interne Diversifikation.
Letztere ist nur bedingt zu beeinflussen. Die Verbriefung scheidet angesichts der fehlenden Größe einzelner Bestände aus. Wirksam ist hingegen die retrospektive Rückversicherung, da nur die Nettorückstellungen, also der nicht von Rückversicherern gedeckte Teil der Schadenreserven, mit Eigenkapital zu unterlegen ist.
Bei der Bestandsübertragung werden die versicherungstechnischen Rückstellungen ebenso wie die dazugehörigen Aktiva vollständig übertragen. Die Bilanz und das Eigenkapital des abgebenden Versicherers werden unmittelbar entlastet.
Als übernehmende Versicherer stehen Spezialversicherer, wie die DARAG, zur Verfügung. Dabei kann es sich sowohl um Erst- als auch Rückversicherungsbestände handeln. Für die Übernahme des noch enthaltenen Abwicklungsrisikos erhält die DARAG eine Risikoprämie, die durch die meist vorhandene (Über-)Reservierung überkompensiert wird.
Im Ergebnis gestattet die Bestandsübertragung dem Versicherer vollständige bilanzielle und operative Finalität und setzt etwaige Überreservierungen ebenso frei wie Eigenkapital.
45 Mrd. Euro Altgeschäft unter Beobachtung
Die Aufmerksamkeit, die dem aktiven Umgang mit Run-off bereits heute zuteil wird, wird weiter steigen. Laut einer Umfrage durch eine renommierte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft werden derzeit 45 Mrd. Euro an versicherungstechnischen Rückstellungen, die Run-off betreffen, aktiv verwaltet oder stehen unter Beobachtung. Gegenüber 2007 ist das ein Zuwachs von 181 %
Es werden zwar kaum die gesamten 115 Mrd. Euro Run-off-Reserven im deutschsprachigen Raum durch Bestandsübertragung oder Rückversicherungslösungen umgeschichtet, jedoch ein Teil davon, und dieser summiert sich zu einer Größenordnung, die den Begriff Run-off-Markt absolut rechtfertigt.