Solvency II: Quo vadis VVaG?

von Prof. Dr. Dietmar Pfeifer, Institut für Mathematik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (VVaG) werden durch die bevorstehenden europaweit harmonisierten Aufsichtsregelungen in besonderem Maße vor neue Aufgaben gestellt. Vom Beitragsaufkommen her stellen die VVaG in Deutschland mit ca. 30% zwar nur eine Minderheit dar, zahlenmäßig fallen sie aber durchaus ins Gewicht. Von den etwa 550 in Deutschland registrierten VVaG (ohne Pensions- und Versorgungskassen) zählen ca. 75 zu den so genannten „größeren“ Vereinen, die nicht regional begrenzt operieren oder aufsichtsrechtlich relevante Sparten (z.B. Unfallgeschäft) betreiben. Sie unterliegen grundsätzlich der Bundesaufsicht durch die BaFin, und für einen Großteil von ihnen wird auch Solvency II ab 2013 uneingeschränkt zur Anwendung gelangen.

Traditionell eng dem genossenschaftlichen Denken und Handeln verbunden, vertreten die VVaG unter allen Rechtsformen am deutlichsten das originäre Prinzip der Versicherung. Ein VVaG dient ausschließlich den Interessen seiner Mitglieder, also den eigentlichen Versicherungsnehmern, und ist daher in seiner Geschäftspolitik grundsätzlich unabhängig von externen Kapitalgebern. In der Regel gilt bei einem VVaG die Devise: Ertrag geht vor Wachstum.
Viele VVaG sehen in Ihrer Satzung darüber hinaus eine Nachschusspflicht ihrer Mitglieder zum Ausgleich von Verlusten vor.

Herausforderungen durch Solvency II

Die neuen europäischen aufsichtsrechlichen Regelungen, die vereinfachend unter dem Stichwort Solvency II zusammengefasst sind, tragen diesem auf Sicherheit und Dauerhaftigkeit ausgerichteten Vereinsgedanken zwar durch eine gewisse Anrechenbarkeit (z.B. der Nachschusspflicht bei den Eigenmitteln) Rechnung, stellen aber die VVaG auf Grund des extrem komplizierten Kalküls zur Berechnung des Solvenz­kapitals vor völlig neue Herausforderungen. Gerade in der Schaden-/Unfall- versicherung sind die deutschen VVaG traditionell deutlich höher kapitalisiert als die marktführenden Aktiengesellschaften, die Teile ihrer Gewinne in Form von Dividenden an ihre Aktionäre (und damit nicht an ihre Kunden) ausschütten. Der Nachweis, dass die VVaG auch unter den künftigen Solvenzanforderungen prinzipiell genauso gut kapitalisiert sein werden wie heute, ist aber mit unverhältnismäßig hohen Hürden verbunden.

Das Standardmodell: Säule I

Vergleicht man die technischen Dokumentationen der bisherigen quantitativen Auswirkungsstudien (QIS) zur Säule I von Solvency II allein bezüglich des Umfangs, so stellt man fest, dass sich die Seitenzahl von der QIS 2 bis zur aktuellen QIS 5 mehr als vervierfacht hat. Eine entsprechende Tendenz sieht man in dem dort hinterlegten Formelwerk, das selbst für Experten nicht mehr unmittelbar einsichtig ist und sich an einigen Stellen mathematisch inkonsistent darstellt. Es ist mehr als fraglich, ob unter solchen Bedingungen die Einhaltung der in der Rahmenrichtlinie zu Solvency II als zentrale Prämisse vorgegebene Sicherheitswahrscheinlichkeit von 99,5% aus mathematischer Sicht überhaupt sinnvoll überprüfbar ist. Für kleine und mittelgroße VVaG (und vermutlich nicht nur für diese), die keine Aktuare beschäftigen, ist das Formelwerk faktisch nicht nachvollziehbar. Damit entfällt für diese Marktteilnehmer verständlicherweise auch die Möglichkeit, das Standardmodell von Solvency II effizient für die eigene Unternehmenssteuerung einzusetzen. Hier wäre ein deutlich reduzierter Modellaufwand - sogar für alle Unternehmensformen - erheblich wirkungsvoller, insbesondere dann, wenn die Vorgabe einer Sicherheitswahrscheinlichkeit von 99,5% eher als qualitative denn als strikt quantitative Richtgröße verstanden wird.

Die MaRisk (VA): Säule II

Mit dem Rundschreiben 3/2009 hat die deutsche BaFin im Vorgriff auf die Säule II von Solvency II Mindestanforderungen an das Risikomanagement von Versicherungsunternehmen gestellt, die sogar über den von Solvency II erfassten Adressatenkreis hinausgehen. Diese Anforderungen sind von vielen VVaG auf Grund einer beschränkten Personalsituation auf der Leitungsebene nur sehr schwer oder nur mit individuell zu begründenden Ausnahmeregelungen zu bewältigen. Diese Ausnahmeregelungen beziehen sich auf das so genannte Proportionalitätsprinzip, das auch in zahlreichen Dokumenten zu Solvency II auf europäischer Ebene behandelt wird. Danach können für alle Versicherungsunternehmen prinzipiell Vereinfachungen bzw. Ausnahmetatbestände je nach Wesensart, Umfang und Komplexität der übernommenen Risiken zur Anwendung kommen

Die unter Solvency II vorgesehenen Vereinfachungen beziehen sich aber überwiegend auf das Formelwerk der Säule I, insbesondere im Hinblick auf die Auswahl der Methodik zur Berechnung der versicherungstechnischen Rückstellungen und stellen daher für kleine und mittelgroße VVaG aus den schon weiter oben erläuterten Gründen keine echte Entlastung dar. In Bezug auf die MaRisk (VA), die nach der offiziellen Einführung von Solvency II vermutlich noch an die europäischen Vorgaben angepasst werden wird, bedeutet das zunächst eine gewisse Rechtsunsicherheit, da alle Vereinfachungen und Ausnahmeregelungen individuell mit der Aufsichtsbehörde ausgehandelt werden müssen und je nach Ansprechpartner in der Behörde unterschiedliche Auslegungen des Proportionalitätsprinzips denkbar sind.

Künftige Berichtspflichten: Säule III

Eine zur Zeit noch gar nicht abzusehende Belastung speziell kleiner und mittelgroßer VVaG wird in den künftig weiter zunehmenden Berichterstattungspflichten liegen. Das größte Problem dürfte hierbei die in Eigenverantwortung durchzuführende und zu dokumentierende Berechnung der Eigenmittelanforderung sein, wenn diese nicht - wie in den bisherigen QIS - durch automatisierte, von der Aufsicht akzeptierte Rechenhilfen unterstützt wird.

Fazit

Die Sinnhaftigkeit einer Überarbeitung und Verbesserung der bisherigen Solvenzkapitalregelungen, die die tatsächlich von den Versicherungsunternehmen eingegangenen Risiken angemessener berücksichtigen als die heutige Lösung, wird mittlerweile von keiner Seite mehr ernsthaft bezweifelt, im Gegenteil marktweit sogar ausdrücklich begrüßt. Eine entsprechende Neuregelung sollte aber fairerweise so ausgewogen erfolgen, dass vor allem die kleinen und mittelgroßen Unternehmen, insbesondere die VVaG, die ihr Geschäft mit teilweise konkurrenzlosen Nischenprodukten und Spezialversicherungen auf nachweisbar solider Basis betreiben, gegenüber großen, meist international operierenden Unternehmen nicht existenziell benachteiligt werden. Ein aufsichtsrechtliches Regelwerk, das sich ausschließlich am IFRS-Standard weniger international orientierter Großunternehmen mit einem entsprechend komplizierten (aber deswegen nicht notwendig guten) mathematischen Modellansatz orientiert, wird einem solchen Anspruch sicher nicht gerecht.