Obwohl mit der Standardformel ein Instrumentarium zur Verfügung gestellt worden ist, das kleineren und mittleren Unternehmen eine vereinfachte Berechnung der Kapitalanforderungen nach Solvency II ermöglichen soll, ist der Aufbau dieser Formel immer noch relativ komplex und erfordert neben einem guten Verständnis der Vorgehensweise u. U. auch intensive Vorarbeiten für die Durchführung.
Für die Schadenversicherung wurde mit der sogenannten „IVW Privat AG“ ein Datenmodell konzipiert, mit dem die Berechnungen der Standardformel 1 und eines internen Modells 2 nachvollzogen werden können.
Ergänzend dazu soll in diesem Beitrag mit der „IVW Leben AG“ ein Datenmodell skizziert werden, mit dem auch für die Lebensversicherung die Anwendung der Standardformel für ein verbessertes Verständnis exemplarisch durchgerechnet werden kann. Eine detaillierte Darstellung der hier zusammengefassten Ergebnisse kann in der Publikationsreihe „Forschung am IVW Köln“ heruntergeladen werden. 3
Ausgangspunkt für das Datenmodell und alle weiteren Berechnungen ist zunächst einmal die nachfolgende HGB-Bilanz der IVW Leben AG. 4
Unter Solvency II muss eine marktkonsistente Umbewertung der HGB-Bilanz zur Solvabilitätsübersicht vorgenommen werden, wobei in einer Marktwertsicht bei den versicherungstechnischen Rückstellungen auch eine angemessene Bewertung von Optionen und Garantien erfolgen muss.
Für alle weiteren Berechnungen wurden für die IVW Leben AG unter der Annahme einer geordneten Bestandsabwicklung Projektionen der Prämien und Leistungen (Brutto und Netto) sowie der Risiko- und übrigen Ergebnisse (klassische Versicherungen und FLV) über einen Zeitraum von 100 Jahren durchgeführt – jeweils unter einer Best Estimate Annahme sowie unter Annahme von vordefinierten Stressszenarien zur Ermittlung der Eigenkapitalanforderungen.
Solvabilitätsübersicht – Verfügbare Eigenmittel
Die marktkonsistente Bewertung der Vermögenswerte erfolgte nach gängigen finanzmathematischen Methoden. In der Solvabilitätsübersicht wird zusätzlich noch Rückversicherung als Vermögenswert ausgewiesen. Die (Neu-)Bewertung dieser Position erfolgte im Kontext der Bewertung der versicherungstechnischen Rückstellungen.
Bei der marktkonsistenten Bewertung der Verbindlichkeiten stellen die versicherungstechnischen Rückstellungen die wichtigste Position dar, wobei für die (Brutto) Marktwerte die Beziehung
p. VT Rückstellungen
p. = BW der erwarteten Leistungen
p. + BW der zukünftigen Überschussbeteiligung VN
p. + Wert der Garantien und Optionen
p. + Risikomarge
gilt.
Die Barwerte der erwarteten Leistungen ergeben sich aus der risikofreien Diskontierung der Best Estimate Projektionen, die Barwerte der zukünftigen Überschussbeteiligung aus der Projektion der GuV-Werte unter Berücksichtigung der spezifizierten Managementregeln und die (nettorisierte) Risikomarge aus den Solvency II-Vorgaben. Der Wert der Zinsgarantien resultiert aus einer alternativen Abzinsung und die Bewertung der Optionen aus einem vereinfachten Black-Scholes-Ansatz
Aus der Umbewertung ergeben sich insgesamt stille Reserven in Höhe von 70.207 T€, die nach Berücksichtigung der Unternehmensbesteuerung den verfügbaren Eigenmittel zugeordnet werden können. Anders als bei einem Schadenversicherer gibt es hier aber Eigenmittel, die – obwohl nicht fest zugeteilt – langfristig eher der „Sphäre der VN“ zugeordnet sind (wie etwa die Going Concern Reserve) und somit nicht der Unternehmenssteuer unterliegen. Insgesamt ergibt sich die Solvabilitätsübersicht dann wie folgt: 5
Die IVW Leben AG macht als Übergangsmaßnahme von der Möglichkeit Gebrauch, den Unterschied zwischen der Solvency I- und der Solvency II-Reserve als Rückstellungs-Transitional anzusetzen, das über einen Zeitraum von 16 Jahren abgeschrieben werden muss.
Solvenzkapitalanforderung – Benötigte Eigenmittel
Die Standardformel gliedert sich in mehrere Module mit den wichtigsten Unterrisiken, die anschließend zum gesamten Solvenzkapitalbedarf SCR aggregiert werden. Auf der obersten Ebene ergibt sich dabei
SCR = BSCR + SCROR + Adjustierungen
mit BSCR dem Basis-Solvenzkapitalbedarf, SCROR dem Solvenzkapitalbedarf für operationelle Risiken sowie risikomindernden Anpassungen aus versicherungstechnischen Rückstellungen und latenten Steuern.
Da die IVW Leben AG keine immateriellen Risiken hat, stimmt der BSCR mit dem diversifizierten BSCR überein, der sich aus der Aggregation der Kapitalbedarfe für Marktrisiken, Ausfallrisiken sowie der versicherungstechnischen Risiken ergibt. Diese Risikokapitalbedarfe wiederrum ergeben sich aus einer analogen Aggregation der Kapitalbedarfe spezifizierter Basisrisiken, die auf der Basis projizierter Stressszenarien ermittelt wurden.
Im Unterschied zur Schadenversicherung gibt es dabei in der Lebensversicherung einen Brutto-Kapitalbedarf (d. h. ohne Berücksichtigung von ZÜB-Anpassungen) sowie einen Netto-Kapitalbedarf (d. h. mit Berücksichtigung von ZÜB-Anpassungen). Die Aggregation der Brutto- und Netto-Kapitalbedarfe zum diversifizierten BSCR der IVW Leben AG ist nachfolgend illustriert. 6
Die IVW Leben AG hat im Vergleich zum deutschen Markt ein untypisch hohes Ausfallrisiko, was im konkreten Fall aus einer RV Struktur mit schlechter Bonität und hohen Prämienaußenständen resultiert.
Die Differenz zwischen dem Brutto- und dem Nettowert kann als risikomindernder Effekt aus der ZÜB interpretiert werden, wobei der hier insgesamt ansetzbare Effekt aber auf die die erwartete ZÜB in Höhe von 39.444 T€ begrenzt wird.
Das SCR für operationelle Risiken in Höhe von 1.886 T€ ergibt sich für die IVW Leben AG als 0,45% des Reserveexposures. Für die Ermittlung der Anpassungen aus latenten Steuern wird zunächst ein vordefinierter Verlust in Höhe von
BSCR + SCROR + Adj. ZÜB
= 93.115 + 1.886 + (-39.444) = 55.557
zugrunde gelegt, wobei sich für die IVW Leben AG bei einem Steuersatz von 30% hierauf maximal (verlustmindernde) latente Steuern in Höhe von 16.667 T€ ergeben würden. Da latente Steuern aber keine echten Assets darstellen, müssen diese einer (individuellen) Werthaltigkeitsprüfung unterzogen werden. Für die IVW Leben AG ergab die Werthaltigkeitsprüfung einen risikomindernden Betrag in Höhe von 13.144 T€. Die Gesamtzusammensetzung des SCR für die IVW Leben AG ist in der nachfolgenden Abbildung illustriert. 7
Für die IVW Leben AG ergibt sich eine Bedeckungsquote von 159,3%, wobei das Unternehmen von der Möglichkeit einer Volatilitätsanpassung und eines Rückstellungs-Transitionals als Übergangsmaßnahmen Gebrauch macht. Ohne diese beiden Maßnahmen würde das Unternehmen die Solvency II-Anforderungen nicht erfüllen, wobei das (über einen Zeitraum von 16 Jahren abzuschreibende) Rückstellungs-Transitional die größten Auswirkungen hat
Das Unternehmen muss also zur Stabilisierung der Bedeckungssituation einige Maßnahmen zur Strukturverbesserung vornehmen. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, im Sinne eines Partialmodells eine verbesserte Einschätzung des operationellen Risikos anhand der unternehmensinternen Risikomatrix vorzunehmen. Den größten Hebel hätte das Unternehmen allerdings, wenn es das (untypischerweise) sehr hohe Ausfallrisiko reduzieren könnte.
1 Heep-Altiner, Rohlfs: Standardformel und weitere Anwendungen am Beispiel des durchgängigen Datenmodells der „IVW Privat AG“. Teil 1: Forschung am IVW Köln, 6 / 2015. https://cos.bibl.th-koeln.de/frontdoor/index/index/docId/65, Teil 2: Forschung am IVW Köln, 10 / 2015. https://cos.bibl.th-koeln.de/frontdoor/index/index/docId/156. In dieser Reihe können auch weitere Publikationen zu Solvency II oder anderen Themen aus der Versicherungswirtschaft kostenfrei heruntergeladen werden.
2 Heep-Altiner, Eremuk: Internes Modell am Beispiel des durchgängigen Datenmodells der „IVW Privat AG“. Forschung am IVW Köln 7 / 2016. https://cos.bibl.th-koeln.de/frontdoor/index/index/docId/371.
3 Heep-Altiner, Penzel, Rohlfs, Voßmann (2016): Standardformel und weitere Anwendungen am Beispiel des durchgängigen Datenmodells der „IVW Leben AG“. Forschung am IVW Köln, 11 / 2016.
4 Heep-Altiner, Penzel, Rohlfs, Voßmann (2016), Seite 3.
5 Heep-Altiner, Penzel, Rohlfs, Voßmann (2016), Seite 15.
6 Heep-Altiner, Penzel, Rohlfs, Voßmann (2016), Seite 21.
7 Heep-Altiner, Penzel, Rohlfs, Voßmann (2016), Seite 24.