Die versicherungsmathematische Funktion ist eine der vier Schlüsselfunktionen des Governance-Systems, die nach § 31 Abs. 1 VAG eingerichtet werden muss.
Gesetzliche Grundlagen
Die Regelungen zur versicherungsmathematischen Funktion werden im Wesentlichen in folgenden gesetzlichen und rechtlichen Vorschriften beschrieben:
Solvency-II-Richtlinie | Artikel 48 |
VAG | § 31 |
Delegierten Verordnung | Artikel 272 |
EIOPA-Leitlinien zum Governance-System | Leitlinien 46 bis 51 |
Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation (MaGo) | Rn. 97 ff. |
Rolle der versicherungsmathematischen Funktion
Versicherer müssen nach § 31 Abs. 1 VAG über eine wirksame versicherungsmathematische Funktion verfügen. Diese Funktion dient der Qualitätssicherung im Zuge einer fachlichen versicherungsmathematischen Beratung durch einen Experten (Vgl. Leitlinien Governance, Rn. 1.12).
Während die anderen Schlüsselfunktionen trotz ihrer aufsichtsrechtlichen Auslegung branchenunabhängig gelten, hat die Versicherungsaufsicht mit der versicherungsmathematischen Funktion eine branchenspezifische Schlüsselfunktion geschaffen (Vgl. Rohlfs 2018, S. 45).
In Bezug auf die Berechnung der versicherungstechnischen Rückstellungen hat die Funktion nach § 31 Abs. 1 S. 2 VAG folgende Aufgaben:
- die Berechnung zu koordinieren,
- die Angemessenheit der verwendeten Methoden und der zugrunde liegenden Modelle sowie der getroffenen Annahmen zu gewährleisten,
- die Hinlänglichkeit und die Qualität der zugrunde gelegten Daten zu bewerten,
- die besten Schätzwerte mit den Erfahrungswerten zu vergleichen,
- den Vorstand über die Verlässlichkeit und Angemessenheit der Berechnung zu unterrichten und
- die Berechnung der versicherungstechnischen Rückstellungen nach § 79 VAG zu überwachen.
Neben der Qualitätssicherung im Rahmen der Berechnung der versicherungstechnischen Rückstellungen hat die versicherungsmathematische Funktion gemäß § 31 Abs. 2 VAG
- zur allgemeinen Zeichnungs- und Annahmepolitik sowie
- zur Angemessenheit der Rückversicherungsvereinbarungen Stellung zu nehmen.
- Auch trägt sie zur wirksamen Umsetzung des Risikomanagementsystems, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung interner Modelle, und zur unternehmenseigenen Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung bei.
Weitere Konkretisierungen der oben aufgelisteten Aufgaben werden in Artikel 272 DVO dargestellt („Aufgabenkatalog“). Zusätzlich wird in der MaGo, den Leitlinien zum Governance-System von EIOPA und erläuternden Texten der BaFin zu den Leitlinien zum Governance System die versicherungsmathematische Funktion ausführlich behandelt.
Die Funktion erstellt nach Artikel 272 Abs. 8 DVO mindestens einmal jährlich einen schriftlichen Bericht, der dem Vorstand vorzulegen ist. Der Bericht dokumentiert alle von der versicherungsmathematischen Funktion wahrgenommenen Aufgaben sowie die erzielten Ergebnisse, benennt klar und deutlich Mängel und enthält Empfehlungen zur Behebung dieser. Zusätzlich besteht auch immer gemäß Artikel 268 Abs. 3 DVO eine „Ad-hoc“-Berichtspflicht im Bedarfsfall.
Anforderungen an die Schlüsselfunktion
Bei ihren Aufgaben unterliegen die Schlüsselfunktionen ausschließlich der Weisung des Vorstands und sind diesem gegenüber berichtspflichtig (vgl. Artikel 268 Nr. 1 DVO), wobei sie operativ unabhängig sein müssen.
Losgelöst von der Gestaltungsform muss eine natürliche Person die Schlüsselfunktion verantworten. Auch wenn mehrere Personen im Rahmen der Schlüsselfunktion tätig sind, ist es nicht möglich, dass die Verantwortung auf zwei oder mehr natürliche Personen verteilt wird (vgl. MaGo, Rn. 81). Schlüsselfunktionen können auch ausgegliedert werden; in diesem Fall ist jedoch im Unternehmen eine natürlich Person als Ausgliederungsbeauftragter zu benennen, der die Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung der ausgegliederten Aufgaben übernimmt (vgl. MaGo, Rn. 237 ff.). Nach dem Proportionalitätsprinzip kann eine natürliche Person auch mehrere Schlüsselfunktionen innehaben. Ebenso kann in Ausnahmefällen ein Vorstandsmitglied eine Schlüsselfunktion einnehmen. Dabei sind mögliche Interessenskonflikte zu untersuchen.
Die Bestellung und das Ausscheiden der Schlüsselfunktionen ist nach § 47 Nr. 1 bzw. Nr. 2 VAG der Aufsichtsbehörde unverzüglich anzuzeigen. Daneben besteht für die Aufsichtsbehörde gem. § 303 VAG die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen die Schlüsselfunktionen zu verwarnen oder abzuberufen.
Auch für die Schlüsselfunktionen gelten die Anforderungen an die fachliche Qualifikation und persönliche Zuverlässigkeit („Fit and Proper“) nach § 24 VAG.
Ergänzend zu den allgemeinen Anforderungen an die fachliche Qualifikation schreibt § 31 Abs. 3 VAG konkret vor, dass derjenige, der die versicherungsmathematische Funktion ausübt, über Kenntnisse der Versicherungs- und der Finanzmathematik verfügen muss, die der Art, dem Umfang und der Komplexität der Risiken des Versicherungsunternehmens angemessen sind. Ebenso muss er einschlägige Erfahrungen hinsichtlich der maßgeblichen fachlichen und sonstigen Standards aufweisen.
Bei Vorliegen dieser Kenntnisse muss die versicherungsmathematische Funktion nicht durch eine Person ausgeübt werden, die geprüfter Aktuar ist. Entsprechend brauchen Versicherungs- oder Rückversicherungsunternehmen im Bereich Nicht-Leben weiterhin keinen Aktuar.
Verantwortlicher Aktuar
Zusätzlich zu der versicherungsmathematischen Funktion ist nach dem § 141 VAG in der Lebensversicherung, der substitutiven Krankenversicherung, der Unfallversicherung mit Prämienrückgewähr sowie für Haftpflicht- und Unfallrenten weiterhin der Verantwortliche Aktuar vorgesehen. Der Verantwortliche Aktuar nimmt eine Schutzfunktion für die Kunden wahr, d. h. er achtet auf Gleichbehandlung und die sachgerechte Verwendung von Überschüssen; außerdem überprüft er, ob die dauernde Erfüllbarkeit der sich aus den Versicherungsverträgen ergebenden Verpflichtungen jederzeit gewährleistet ist (Vgl. MaGo, Rn. 97 u. 123).
Der Verantwortliche Aktuar könnte gleichzeitig die versicherungsmathematische Funktion innehaben, denn eine organisatorische Trennung erscheint nicht zwingend erforderlich zu sein. In diesem Fall muss jedoch geprüft werden, ob diese Kombination zu Interessenkonflikten führen kann (z. B. bei der Beurteilung der Überschussbeteiligung). Sind solche Interessenkonflikte möglich, kann die für die versicherungsmathematische Funktion verantwortliche Person nur dann zugleich Verantwortlicher Aktuar sein, wenn das Unternehmen durch geeignete und wirksame Maßnahmen gewährleistet, dass die betreffende Person jede der beiden Aufgaben vollständig und unabhängig ausüben kann (Vgl. MaGo, Rn. 123 u. 125).